8 58. Die Rechtsverordnungen des Reichs. 109
gaben nicht ausreichen, wenn der eine Abdruck, an welchen das
Gesetz die Fiktion der Kundschaft knüpft, fehlt. Es gibt daher keine
rechtswirksame Verkündigung außer auf Grund eines Rechtssatzes,
welcher einer gewissen Art der Bekanntmachung die Rechtswirkung
der Verkündigung beilegt. Dieser Grundsatz hat keinen Zusammen-
hang mit der Art und Weise, wie eine Rechtsvorschrift zustande ge-
kommen und von wem sie auf Grund verfassungsmäßiger Zuständigkeit
erlassen worden ist; er folgt vielmehr aus dem Wesen der Rechts-
vorschrift als eines Teils der öffentlichen Rechtsordnung, aus ihrer
Gemeinverbindlichkeit.
Der Rechtssatz, in welcher Weise Rechtsvorschriften des Reichs
verkündigt werden müssen, ist im Art. 2 der RV. enthalten; die Ver-
kündigung muB vermiittelst des Reichsgesetzblattes erfolgen. Daß diese
Vorschrift sich auch auf Rechtsverordnungen bezieht, ergibt sich aus
dem Wortlaut und der Entstehungsgeschichte des Artikels.
Der erste Satz dieses Artikels legt dem Reich das Recht der Ge-
setzgebung mit der Wirkung zu, daß die »Reichsgesetze« den »Landes-
gesetzen« vorgehen. Es ist bereits oben bemerkt worden, daß die
Ausdrücke »Reichsgesetze« und »Landesgesetze« hier nicht auf formelle
Gesetze beschränkt werden dürfen, sondern dieser Satz besagt, daß
alle vom Reiche sanktionierten Rechtsvorschriften allen von den
Einzeistaaten sanktionierten Rechtsvorschriften vorgehen. Zu den vom
Reiche sanktionierten Rechtsvorschriften gehören aber auch die in den
Reichs verordnungen enthaltenen Rechtsregeln. Darüber besteht
sowohl in der Theorie als auch in der Praxis der Gerichte und Ver-
waltungsbehörden vollkommene Uebereinstimmung ohne Ausnahme.
Wenn nun der zweite Satz dieses Artikels fortfährt: »Die Reichsgesetze
erhalten ihre verbindliche Kraft durch ihre Verkündigung von Reichs
wegen, welche vermittelst eines Reichsgesetzblattes geschieht«, so würde
es gegen die Regeln der Auslegungskunst verstoßen, in diesem zweiten
Satze das Wort Reichsgesetz in einem ganz anderen Sinne zu verstehen
und diesem Ausdruck in derselben Zeile der Reichsverfassung zwei
verschiedene Bedeutungen beizulegen. Auch dieser zweite Satz be-
schränkt sich nicht auf die formellen Gesetze, von denen erst Art. 5
der Reichsverfassung spricht, sondern er schreibt für alle vom Reiche
erlassenen Rechtsvorschriften die Verkündigung mittelst des Reichsge-
setzblattes vor'). Die vom Reichsgericht und mehreren Schriftstellern
aufgestellte Behauptung, daß sich der erste Satz des Art. 2 auf materielle
Gesetze (alle Rechtsvorschriften), der zweite Satz auf formelle Gesetze
bezieht, ist völlig willkürlich und durch nichts begründet und wird
überdies durch die Entstehungsgeschichte des Artikels widerlegt. Der
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1) Daß auch Reichsgesetze ohne Rechtsinhalt im Gesetzblatt verkündigt werden
müssen, ist zweifellos, da die Verkündigung zum „Wege-der Gesetzgebung“ gehört;
daraus ist aber der Rückschluß nicht gerechtfertigt, daß Rechtsvorschriften,ohne Ge-
setzesform (Rechtsverordnungen) nicht verkündigt zu werden brauchen.