8 67. Das Reichsland. Geschichte seiner Verfassungsentwicklung. 217
lichkeit ist zwar für jeden Staat wesentlich; aber sie kommt nicht
ausschließlich dem Staate zu!). Aber das Reichsland trat doch durch
die besondere, von der Finanzwirtschaft des Reichs getrennte Finanz-
wirtschaft in einen Gegensatz zum Reich, welcher dem Gegensatz
zwischen Reich und Bundesglied sehr ähnlich, wenngleich keineswegs
gleich war?) und namentlich der Verwaltung des Reichslands das Ge-
präge einer der Reichsverwaltung gegenüberstehenden Staatsverwaltung
verlieh. Für die Behörden selbst, welche an die Ansätze des Etats
gebunden sind und auf Grund derselben Ausgaben anweisen, Ein-
nahmen erheben und Rechnung zu legen haben, war diese Unter-
scheidung tatsächlich von größerer Bedeutung als ihr staatsrechtlich
zukommt und sie wurde vielfach überschätzt.
2. Dem Begriff des Reichslandes gemäß war der Reichskanzler
der Minister des Kaisers für alle Angelegenheiten des Reichslandes,
ohne Unterschied, ob sie nach der Reichsverfassung zur Zuständigkeit
des Reiches gehörten oder nicht. Das Gesetz vom 9. Juni 1871 be-
stätigte die Zuständigkeit des Reichskanzlers, indem es im $ 4 be-
stimmte:
»die Anordnungen und Verfügungen des Kaisers bedürfen zu
ihrer Giltigkeit der Gegenzeichnung des Reichskanzlers, der da-
durch die Verantwortlichkeit übernimmt.«
Diese Gesetzesvorschrift ist wörtlich dem Schlußsatz des Art. 17
der Reichsverfassung entnommen und hat zweifellos denselben Sinn
wie der letztere; der Reichskanzler war allein sowohl dem Kaiser wie
dem Reichstage für verantwortlich erklärt und er war daher der ein-
zige oberste Chef der gesamten Reichslandverwaltung in allen Ressor ts.
Dem Reichskanzler wurde zur Erledigung seiner reichsministeriellen
Amtsgeschäfte das Reichskanzleramt beigegeben ; demgemäß wurde
diese Reichsbehörde auch die oberste Verwaltungsbehörde für Elsaß
und Lothringen.
Die an die Stelle der französischen Präfekten getretenen Bezirks-
präsidenten wurden aber nicht dem Reichskanzleramt unmittelbar
unterstellt, sondern es wurde durch das Gesetz, betreffend die Ein-
richtung der Verwaltung, vom 30. Dezember 1871 (Gesetzblatt 1872,
Ss. 49) eine Behörde von sehr eigentümlichem Charakter dazwischen
geschoben: der Oberpräsidentvon Elsaß-Lothringen in
Straßburg.
1) Auch die Schutzgebiete sind Subjekte des Vermögensrechts ohne Staaten zu
sein. Siehe unten $ 70. Daher kann aus der vermögensrechtlichen Selbständigkeit
des Reichslandes die staatsrechtliche nicht hergeleitet werden.
2) Kraft der Gesetzgebungskompetenz des Reichs konnte das letztere Elsaß-
Lothringen Landeseinnahmequellen geben und nehmen. Ausgaben auferlegen und ver-
bieten, die Gebühren für die Verrichtungen der Landesbehörden normieren, Einrich-
tungen einführen oder aufheben, insbesondere den Landeshaushalt festsetzen. In
dieser staatsrechtlichen Seite des Finanzrechts war daher die Stellung Elsaß-
Lothringens zum Reiche eine andere wie die der Bundesstaaten.