230 8 67. Das Reichsland. Geschichte seiner Verfassungsentwicklung.
4. Trotz allen diesen Zugeständnissen blieb Elsaß-Lothringen aber
Reichsland. Die Motive zum Gesetz vom 4. Juli 1879 erklären aus-
drücklich, »daß die staatliche Form, welche das Reichsland bei der
Einverleibung erhalten hat, im wesentlichen unverändert bleibe«') und
in der Sitzung des Reichstags erklärte der Vertreter des Reichskanzler-
amts für Elsaß-Lothringen: »Die Souveränität, welche nach dem Frie-
densvertrage und nach dem Vereinigungsgesetze beim Reiche be-
ruht, wird demselben erhalten; die Staatsgewalt, welche
der Kaiser im Namen des Reiches auszuüben hat, sie verbleibt ihm;
sie wird weder in dem Titel, aus welchem sie abge-
leitetist, verändert, noch in ihrem Umfange erweitert oder
vermindert« 2). Der Kardinalpunkt, der ausschließlich für die Beant-
wortung der Frage entscheidend ist, ist der Mangel einer von der
Reichsgewalt verschiedenen, selbständigen Staatsgewalt. Dieser
trat darin zutage, daß der Kaiser die Staatsgewalt sim Namen des
Reichs« und auf Grund reichsgesetzlicher Delegation, nicht als Landes-
herr, sondern als Organ des Reichs ausübte. Dies erschien vielen
wohl nur als eine Form, welche mehr eine symbolische als praktische
Bedeutung hat. Aber die Eigenschaft als Reichsland machte sich auch
in den positiven Verfassungsinstitutionen geltend. |
a) Vor allen in der fortdauernden Mitwirkung des Bundesrats
an der Landesgesetzgebung. Dadurch hatten die Bundesregierungen
ein Ueberwachungsrecht vom Standpunkt der Reichsinteressen aus hin-
sichtlich aller von der Reichslandsregierung mit dem Landesausschuß
vereinbarten Gesetzentwürfe und da sich dieses Recht auch auf das
Etatsgesetz erstreckte, auch hinsichtlich der Verwaltung und Finanz-
wirtschaft. Die Herrschaft des Reichs über Elsaß-Lothringen fand
ihren Ausdruck darin, daß die Zustimmung der Gesamtheit der Bun-
desstaaten, vertreten durch den Bundesrat, zu allen Landesgesetzen
erforderlich war. Dies war eine Schranke der Autonomie, welche sich
sehr fühlbar machte. So sehr die Teilnahme des Bundesrats an der
Landesgesetzgebung theoretisch dem Begriff des Reichslands entsprach,
so waren doch praktisch damit Uebelstände verbunden. Die Landes-
gesetzgebung wurde dadurch erschwert, verwickelt und verzögert;
Interessen des Reichs kommen bei den der Landesgesetzgebung unter-
liegenden Angelegenheiten in der Regel nicht in Betracht; noch viel
weniger können die besonderen Interessen der Einzelstaaten durch
Anordnungen auf dem Gebiet der elsaß-lothringischen Landesange-
legenheiten berührt werden. Da die Bevollmächtigten zum Bundesrat
nach den ihnen erteilten Instruktionen abstimmen, so unterlagen die
Gesetzentwürfe für Elsaß-Lothringen der Prüfung sämtlicher deutscher
Landesregierungen, denen in der Regel nicht nur jedes praktische
Interesse, sondern auch oft die erforderliche spezielle Kenntnis der
1) Drucks. des Reichstags 1879 VI, S. 1532.
2) Stenogr. Berichte II, 1617. Vgl. Stöber.a.a. 0. S. 653.