8 55. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. 25
mitgliedern ausgehen, von mindestens 15 Mitgliedern unterzeichnet
sein; Abänderungsvorschläge, welche vor oder bei der zweiten Be-
ratung eingebracht werden, bedürfen keiner Unterstützung; bei der
dritten Beratung müssen sie von 30 Mitgliedern unterstützt sein').
Ueber die geschäftliche Behandlung der Gesetzesvorschläge im
Bundesrate und Reichstage vgl. Bd. 1, $ 30, S. 281; 8 36, S. 350 ff.
2. Eine scheinbare Differenz zwischen dem Rechte des Bundes-
rates und dem des Reichstages, Gesetze vorzuschlagen, ist dadurch be-
gründet, daß der Art. 23 dem Reichstage diese Befugnis »innerhalb
der Kompetenz des Reiches« gestattet, während der Bundesrat an eine
solche Beschränkung nicht gebunden ist?). Da aber auch die Ver-
änderung der Kompetenz des Reiches selbst nach Art. 78 der Reichs-
verfassung dem Reiche zusteht, also »sinnerhalb der Kompetenz des
Reiches« liegt, so ist es dem Reichstage unbenommen, eine Erweite-
rung dieser Kompetenz vorzuschlagen °). Bei strengster Auslegung
würde demnach der Art. 23 nur die Folge haben, daß der Reichstag,
bevor er ein Gesetz vorschlägt, welches das zur Zeit der Reichsgesetz-
gebung zugewiesene Gebiet überschreitet, zunächst ein präparatorisches
Gesetz vorschlagen müßte, welches in entsprechender Weise dieses
Gebiet erweitert, und daß der Reichstag erst, nachdem dieser Vorschlag
Gesetz geworden ist, dasjenige Gesetz vorschlagen dürfte, welches von
dieser erweiterten Kompetenz Anwendung macht‘). Es ist aber nicht
einzusehen, warum der Reichstag diesen letzteren Vorschlag nicht gleich
mit dem auf Abänderung der verfassungsmäßigen Kompetenz gerichte-
arbeitet worden sind, ist reichsrechtlich ohne Erheblichkeit, da die Vorbereitung
der Reichsgesetze bis zur Einbringung des Entwurfs im Bundesrat reichsgesetzlich
überhaupt nicht geregelt ist; solche Entwürfe können auch von Privatpersonen, Kor-
porationen usw. ausgearbeitet und vorgeschlagen werden. Uebereinstimmend Dam-
bitsch S. 185. Dagegen besteht allerdings für alle preußischen Anträge im Bun-
desrat, also auch für alle mit kaiserlicher Ermächtigung eingebrachten Vorlagen,
dieVerantwortlichkeitdespreußischenStaatsministeriums nach
Maßgabe der preußischen Verfassung. Würde dem Kaiser als solchem, als Organ des
Reichs, das Recht der Initiative eingeräumt werden, so würde dies die Reichsver-
fassung tatsächlich nicht erheblich verändern, da es ja tatsächlich bereits ausgeübt
wird; wohl aber könnte der Zusammenhang der Kaiserlichen Regierung des Reichs
mit der Königlichen Regierung des Preußischen Staates erheblich gelockert werden.
Vgl. Bd. 1, S. 238 und 378 Anm. 3. Ueber Elsaß-Lothringen siehe unten $ 68.
1) Geschäftsordnung des Reichstages $ 22, Abs. 1, 8 19, Abs. 3, $ 20, Abs. 2.
2) v. Rönne, Staatsrecht des Deutschen Reiches I, S. 239 nimmt an, daß auch
der Bundesrat nicht berechtigt sei, Gesetze außerhalb der Kompetenz des Reiches
vorzuschlagen.
3) Ausführliche Erörterungen darüber bei Hänel, Studien I, S. 156 ff., 160, 256
und bei Koller, Verfassung des Deutschen Reichs S. 93 ff.
4) Dies ist die Ansicht von Seydel, Kommentar (1. Aufl.) S. 151; Thudichum
S. 215; Auerbach S. 57; Beseler in den preußischen Jahrbüchern Bd. 28 (1871),
S. 192; v. Rönne a. a. O. S. 266, 267, Note5. Vgl. auch dessen preuß. Staatsrecht 1,
1,8 22 (S. 87). — Hänel, Studien I, S. 256, Note 7 erklärt diese Ansicht mit Recht
für „ganz unhaltbar*.