292 8 70. Die Rechtsverhältnisse der deutschen Schutzgebiete.
Nicht auf der Reichsverfassung, welche in den Schutzgebieten in keiner
ihrer Bestimmungen gilt, sondern auf der Herrschaft des Reichs über
die Schutzgebiete, beruht die Zuständigkeit des Reichs zur Schutz-
gesetzgebung. Da nun für jeden Willensakt des Reiches, ohne Unter-
schied des Inhalts, die Form des Reichsgesetzes Verwendung finden
kann, so ergibt sich, daß der Weg der Reichsgesetzgebung auch für
alle die Schutzgebiete betreffenden Angelegenheiten die verfassungs-
mäßig zulässige und rechtlich wirksame Form ist. Dagegen können,
abgesehen von der dem Kaiser zustehenden völkerrechlichen Ver-
tretung, die einzelnen Organe des Reiches eine selbständige Zuständig-
keit in Angelegenheiten der Schutzgebiete aus der Verfassung un-
mittelbar nicht ableiten; denn dieselbe enthält keine die Schutzgebiete
speziell betreffende Bestimmung, und die allgemeinen Regeln über die
Zuständigkeit des Bundesrates im Art. 7, Ziff. 2 und 3 und über die
Zuständigkeit des Kaisers im Art. 17 setzen das Vorhandensein eines
»Reichs gesetzes« voraus. Diesen Verfassungsgrundsätzen entspre-
chend ist das Reichsgesetz vom 17. April 1886 (Reichsgesetzbl. S. 75)
ergangen!), welches alle Streitfragen abschneidet, indem es im 8 1 be-
stimmt:
»Die Schutzgewalt in den deutschen Schutzgebieten übt der
Kaiser im Namen des Reiches aus.«
Hieraus ergeben sich folgende Sätze:
1. Der Kaiser übt als Organ des Reiches die Schutzgewalt
aus, so wie er als Organ des Reiches die Staatsgewalt in Elsaß-Loth-
ringen ausübt?). Die Schutzgewalt ist ein Teil der im Bundespräsidium
enthaltenen Rechte, kein selbständig daneben stehendes, davon recht-
lich abgelöstes Recht. Der Kaiser hat ein gesetzliches Recht darauf,
daß er die — dem Reiche zustehende — Schutzgewalt ausübe, aber
die Schutzgewalt selbst ist nicht sein eigenes Recht, sondern ein Recht
des Reiches). Das Gesetz bringt dies zum Ausdruck, indem es be-
stimmt, daß der Kaiser die Schutzgewalt im Namen des Reiches
ausübt. Daraus folgt, daß die Schutzgewalt quoad ius der Gesamtheit
der deutschen Bundesstaaten zusteht, und ferner, daß die allgemeinen
verfassungsrechtlichen Regeln über die Anordnungen und Verfügungen
des Kaisers, namentlich die Vorschrift, daß sie zu ihrer Gültigkeit der
Gegenzeichnung des Reichskanzlers bedürfen, welcher dadurch die
Verantwortlichkeit übernimmt, auch auf diejenigen Anordnungen und
Verfügungen des Kaisers, welche sich auf die Ausübung der Schutz-
gewalt beziehen, Anwendung finden‘).
1) Ueber die Entstehung desselben vgl. Jo&@l S. 192 u. namentlich Meyer S. 48 ff.
2) Dies ist von den Vertretern der Bundesregierungen besonders hervorgehoben
worden. Vgl. Kommissionsbericht S. 987 und Staatssekretär v. Schelling
in den Verhandlungen des Reichstages 1885/86, S. 2028.
3) Uebereinstimmend Meyer S. 123; v. Stengel, Annalen 1889, S. 136 ff;
Hänell, S. 8öl; Zorn S. 573; Sassen S. 22fg
4) Vgl. Kommissionsbericht S. 997; G. Meyer S. 127; Hänel S. 852;