8 55. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. 39
klären, da sonst die Bestimmung des Art. 78, Abs. 1 eine völlig wir-
kungslose und illusorische wäre. Es ist ferner unbedenklich anzuer-
kennen, daß das korrekte Verfahren darin besteht, daß zunächst der
Wortlaut der Verfassung entsprechend verändert und alsdann erst das
beabsichtigte Spezialgesetz erlassen wird, damit die Harmonie zwischen
den in der Verfassung formulierten Prinzipien und den Gesetzgebungs-
akten des Reiches nicht gestört wird. Auch sind die politischen Nach-
teile unverkennbar, welche die Durchlöcherung der Verfassungssätze
durch gelegentliche Spezialgesetze im Gefolge hat. Alles dies ist aber
nicht entscheidend für die Beantwortung der Rechtsfrage, ob nach
allgemeinen Rechtsgrundsätzen oder nach den Anordnungen der deut-
schen Reichsverfassung der Erlaß von Spezialgesetzen, welche dem
Wortlaut der Verfassung widerstreiten, auch unter Erfüllung der für
Verfassungsänderungen vorgeschriebenen Erfordernisse untersagt und
unstatthaft ist, und ob Gesetze dieser Art, welche ohne vorhergehende
verfassungsmäßig erfolgte Veränderung der Verfassungsurkunde erlas-
sen worden sind, rechtlich wirkungslos seien.
Diese Frage ist zu verneinen'). Die in der Verfassung enthaltenen
Rechtssätze können zwar nur unter erschwerten Bedingungen abgeän-
dert werden, aber eine höhere Autorität als anderen Gesetzen
kommt ihnen nicht zu. Denn es gibt keinen höheren Willen im Staate
als den des Souveräns, und in diesem Willen wurzelt gleichmäßig die
verbindliche Kraft der Verfassung wie die der Gesetze. Die Verfassung
ist keine mystische Gewalt, welche über dem Staat schwebt, son-
dern gleich jedem anderen Gesetz ein Willensakt des Staates und
mithin nach dem Willen des Staates veränderlich 2). Es kann frei-
lich gesetzlich vorgeschrieben sein, daß Aenderungen der Verfassung
nicht mittelbar erfolgen dürfen (d. h. durch Gesetze, welche ihren In-
halt modifizieren), sondern nur unmittelbar durch Gesetze, welche
ihren Wortlaut anders fassen. Wo ein solches erschwerendes Er-
fordernis für Verfassungsänderungen aber durch einen positiven Rechts-
satz nicht angeordnet ist, läßt sich dasselbe aus der juristischen Natur
der Verfassung und dem Verhältnis der Verfassungsurkunde zu ein-
1) Sie ist in der Literatur mehrfach behandelt worden. Für die Be Jahung
erklären sich Hiersemenzell], S. 35, 214; Beseler in den preuß. Jahrbüchern
1871, B. 28, S. 190 ff.; Zachariä, Zur Frage von der Reichskompetenz gegenüber
dem Unfehlbarkeitsdogma 1871, S. 46; G. Meyer, Staatsrechtl. Erörterungen S. 64,
Anm. 1; Westerkamp S. 133 und besonders v. Rönne, Staatsrecht des Deutschen
Reichs II, 1, S. 31fg. Für die Verneinung haben sich ausgesprochen O. Bähr
in den preuß. Jahrbüchern 1871, Bd. 28, S. 79; besonders Hänel, Studien I, S. 258;
Zorn ],S. 432; Seydel, Kommentar S. 418; Arndt, Kommentar Note 2 zu Art. 78.
Jetzt auch G. Meyer, Staatsrecht $ 164. (Daselbst Note 3 weitere Literaturangaben)
und Dambitsch S. 681g.
2) Vgl. meine Erörterung im Archiv für öffentl. Recht Bd. 9, S. 273. Die
Eigenschaften, auf welche man die exorbitante Autorität der Verfassungsurkunde zu
stützen pflegt, nämlich daß sie „feierlich verbrieft“, „mit der Volksvertretung ver-
einbart“ sei u. dgl. kommen ebenso allen anderen Gesetzen zu.