Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Zweiter Band. (2)

40 S 55. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. 
fachen Gesetzen nicht herleiten. Der Satz, daß Spezialgesetze stets mit 
der Verfassung im Einklang stehen müssen und niemals mit ihr 
unvereinbar sein dürfen'), ist lediglich ein Postulat der _Gesetzge- 
bungspolitik, aber kein Rechtssatz , wenn es auch wünschenswert er- 
scheint, daß der gesetzlich bestehende Rechts- und Verfassungszustand 
nicht im Widerspruch stehe mit dem Wortlaut der Verfassungsur- 
kunde, so ist dennoch die tatsächliche Existenz eines solchen Wider- 
spruchs an und für sich ebenso möglich und rechtlich zulässig, wie 
etwa eine Divergenz des Strafgesetzbuchs, Handelsgesetzbuchs oder der 
Prozeßordnung mit einem später erlassenen Spezialgesetz. 
Die Reichsverfassung enthält keine Vorschrift, daß Aenderungen 
ihrer Bestimmungen .nur unmittelbar durch Aenderungen ihres Wort- 
lautes, nicht mittelbar durch Erlaß von Spezialgesetzen erfolgen dür- 
fen. Sie verlangt im Art. 78, Abs. 1 nichts weiter, als daß sie „im Wege 
der Gesetzgebung erfolgen«, mit dem alleinigen Zusatz, daß 14 Stim- 
men im Bundesrate zur Ablehnung des Gesetzes genügen. Es ist daher 
nicht wohl zu begreifen, wie man sich auf den Art. 78, Abs. 1 berufen 
kann’), um darzutun, daß »der Weg der Gesetzgebung« nicht genü- 
gend sei, sondern daß er gleichsam zweimal zurückgelegt werden 
müsse, das erste Mal, um der Verfassungsurkunde den erforderlichen 
Wortlaut zu geben, das zweite Mal, um die eigentlich beabsichtigten 
gesetzlichen Anordnungen zu treffen. Ebensowenig kann man sich 
mit Erfolg auf die Bestimmung im Art. 2 der Reichsverfassung beru- 
fen, wonach das Reich das Recht der Gesetzgebung nur »nach Maß- 
gabe des Inhaltes der Reichsverfassung« auszuüben berechtigt sei, um 
darzutun, daß jedes Gesetz seinem Inhalte nach mit den Bestimmun- 
gen der Reichsverfassung in Uebereinstimmung stehen müsse; denn 
auch Art. 78 gehört zum Inhalte der Reichsverfassung. Jedes Gesetz, 
welches in den in der Reichsverfassung vorgeschriebenen Formen 
ergangen ist, entspricht dem Erfordernis der Verfassungsmäßigkeit ; die 
in der Verfassung enthaltenen materiellen Vorschriften dagegen 
sind durch Art. 78 ausdrücklich für abänderlich im Wege der Gesetz- 
gebung erklärt. Auch der Reichsverfassung gegenüber gilt daher der 
Grundsatz lex posterior derogat priori. 
In der Praxis des Deutschen Reiches sind die hier entwickelten 
Sätze wiederholt zur Anwendung gebracht worden. Der Art. 4 der Ver- 
fassung hat schon zur Zeit des Norddeutschen Bundes, ohne daß sein 
Wortlaut verändert worden wäre, seinem Inhalte nach eine Erweite- 
rung erfahren durch das Gesetz vom 12. Juni 1869 über die Errichtung 
des Oberhandelsgerichts®). Daß auch das Gesetz vom 6. März 1875, 
1) Vgl. z.B. v. Rönne, Staatsrecht des Deutschen Reichs II, 1, S. 83; Wester- 
kamp S. 196 ff. u. v. A. 
2) Z. B.v. Rönnea.a. O. S. 321g. 
3) Vgl. darüber die Verhandlungen des preuß. Herrenhauses 1869/70. Stenogr. 
Berichte S. 59.
	        
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