42 8 55. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung.
Grundsatz ist in der Praxis zur Anwendung gekommen, indem z. B.
die Kompetenz des Reichsoberhandelsgerichts und damit die im Art. 4
der Reichsverfassung abgegrenzte Kompetenz des Reichs durch eine
Reihe von Gesetzen erweitert worden ist'!), ohne daß für dieselben der
Charakter der verfassungsändernden Gesetze in Anspruch genommen
worden ist?). Sollen die Bestimmungen eines Spezialgesetzes dieselben
Garantien gegen Veränderungen erhalten, wie diejenigen der Verfas-
sung, ohne daß sie doch in die Verfassungsurkunde selbst aufgenom-
men werden, so muß das Spezialgesetz die ausdrückliche Anordnung
enthalten, daß es nur auf dem im Art. 78 der Reichsverfassung bezeich-
neten Wege abgeändert werden könne.
Il. Die Ausfertigung der Reichsgesetze.
Wenn der Reichstag einem Reichsgesetze die Zustimmung erteilt
und der Bundesrat dasselbe definitiv genehmigt (sanktioniert) hat, so
sind die materiellen Voraussetzungen für den Erlaß des Gesetzes ge-
geben. Es bedarf das Gesetz aber, um rechtlich wirksam werden zu
können, einer sinnlich wahrnehmbaren authentischen und solennen
Erklärung, einer äußeren, seine rechtmäßige Entstehung verbürgenden
und bestätigenden Form. Der Beschluß des Reichstages hat an und
für sich keine verbindliche Kraft, weil er nicht einen Befehl der Staats-
gewalt zum unmittelbaren Inhalte hat; der Sanktionsbeschluß des
Bundesrates ist — wie bereits erörtert wurde — ebenfalls nicht der
formelle Erlaß des Gesetzesbefehles selbst, sondern nur ein Beschluß,
daß dieser Befehl im Namen des Reiches erlassen werden soll. Die
formelle Erklärung des Gesetzgebungswillens des Reiches, die A us-
fertigung und Verkündigung des Reichsgesetzes ist vielmehr
durch Art. 17 der Reichsverfassung dem Kaiser übertragen.
1. Die Eingangsworte der Gesetzesurkunde lauten: »Wir.......
verordnen im Namen des Deutschen Reiches, nach erfolgter
Zustimmung des Bundesrates und desReichstages,
was folgt.« Die Ausfertigung des Gesetzes enthält also die kaiserliche
Versicherung, daß das Gesetz die Zustimmung des Reichstages und
Bundesrates erhalten hat, d. h. den Anforderungen der Reichsverfas-
sung gemäß zustande gekommen ist. Sie setzt demnach eine Prüfung
des Weges, den das Gesetzgebungswerk zurückgelegt hat, voraus. Dem
Kaiser als solchem steht zwar ein Veto gegen das Reichsgesetz nicht
zu; aber der Kaiser hat das Recht und die Pflicht zu untersuchen,
ob das Gesetz in verfassungsmäßiger Weise die Zustimmung des Reichs-
tages und Bundesrates und die Sanktion des durch den Bundesrat ver-
tretenen Trägers der Reichsgewalt erhalten hat. Er hat daher insbe-
1) Vgl. Bd. 1, S. 413 Note 2.
2) Gerade hierin aber zeigt es sich, wie bedenklich es in politischer Hinsicht
ist, die Verfassungsgrundsätze durch Spezialgesetze zu durchbrechen, ohne den Wort-
laut der Verfassungsurkunde entsprechend abzuändern.