$ 55. Der Weg der Gesetzgebung nach der Reichsverfassung. 43
sondere zu prüfen, ob im Bundesrate die Abstimmung nach den im
Art. 7 der Reichsverfassung aufgestellten Regeln und ob die Beschluß-
fassung den Bestimmungen der Art. 5, 6a, 37 oder 78 der Reichsverfas-
sung gemäß erfolgt ist!\; ob dem Gesetz, falls es jura singulorum be-
rührt, der davon betroffene Bundesstaat zugestimmt hat; ob der Reichs-
tag und Bundesrat die Gesetzesvorlage den bestehenden Vorschriften
gemäß behandelt haben ; ob zwischen den Beschlüssen beider Körper-
schaften völlige Uebereinstimmung besteht usw. Wenn diese Prüfung
zu einem negativen Ergebnis führt, so hat der Kaiser nicht bloß das
Recht, sondern die Pflicht, die Ausfertigung zu versagen, bis der Mangel
gehoben ist. Auch wenn der Kaiser irrtümlich zu dieser Ansicht ge-
langen sollte, so gilt seine Entscheidung, denn es gibt keine höhere
Instanz, welche ihn zur Ausfertigung des Gesetzes anhalten könnte.
Es ist daher tatsächlich die Möglichkeit gegeben, daß der Kaiser,
indem er die Ausfertigung des Gesetzes aus einem formellen Grunde
versagt, ein Veto ausübt?). Eine politische Gefahr ist in diesem Satze
1) In dem Getetz vom 21. Juli 1870 (Bundesgesetzbl. S. 498) lautet die Aus-
fertigungsformel: „nach erfolgter verfassungsmäßiger Zustimmung des Bun-
desrates und Reichstages“. Es sollte dadurch angedeutet werden, daß die Abstim-
mung im Bundesrate gemäß Art. 78 der Reichsverfassung erfolgt ist. Bei den späteren,
die Reichsverfassung abändernden Gesetzen hat man diesen Zusatz in den Eingangs-
worten jedoch wieder fortgelassen und zwar mit Recht; denn die Zustimmung des
Bundesrates und Reichstages muß bei allen Gesetzen, mögen sie die Verfassung
abändern oder nicht, verfassungsmäßig erfolgen.
2) v. Mohl, Reichsstaatsrecht S. 291 ff. macht mit Recht geltend, daß dem
Kaiser die Ausfertigung „verfassungswidriger“ Gesetze „nicht zugemutet“ werden
könne; er unterscheidet aber nicht zwischen Ausfertigung und Sanktion; Hänel,
Studien I, S.51; Mejer, S. 279, Note 16; Zorn L,S. 4l5fg.; Schulze, Deutsches
Staatsrecht II, S. 119; Fleischmann, Weg der Gesetzgebung S. 68fg.; Lukas;
Gesetzespublikation S. 3ff.; Anschütz, Enzykl. S. 601 und in Meyers Staatsr.
(6. Aufl. 8 163 Note 13; Dambitsch S. 48, 339 ff. schließen sich in allen Punkten
an die von mir gegebene Darstellung an. Auch Gierke (bei Grünhut VI, S. 230)
kann nicht in Abrede stellen, daß der Kaiser berechtigt und verpflichtet ist, festzu-
stellen, ob und worin ein übereinstimmender Beschluß von Bundesrat und Reichstag
verfassungsmäßig zustande gekommen ist, aber er meint, daß „hierin gar keine
selbständige und besondere Befugnis liegt, die einer positiven Herleitung aus dem
Worte ‚Ausfertigung‘ bedürfte, sondern eine bei der Stellung des Kaisers selbstver-
ständliche (?) Konsequenz seines Verkündigungsrechts“.. Art. 17 der Reichsverfassung
unterscheidet nun aber einmal ausdrücklich und mit gutem Grunde die „Ausfertigung“
und die „Verkündigung“, die sich auch in der Praxis deutlich von einander abheben;
es ist deshalb nicht einzusehen, warum diese beiden Begriffe von der Doktrin durchaus
zusammengeworfen und vermengt werden sollen. G. Meyer in Hirths Annalen 1878,
S. 374 gibt zu, daß die Nebeneinanderstellung der beiden Ausdrücke im Art. 17 cit.
„den Eindruck macht, als ob damit zwei verschiedene staatsrechtliche Akte bezeich-
net werden sollen“, setzt sich aber darüber hinweg, indem er sie für eine der „In-
korrektheiten im Ausdruck, denen wir ja leider in Reichsgesetzen nicht gerade selten
begegnen“, erklärt. Der Umstand, daß die Ausfertigung der Gesetze in der Litera-
tur des deutschen Staatsrechts bisher nicht erörtert worden ist, wozu ein praktischer
Anlaß fehlte, rechtfertigt nicht den Schluß, daß sie „ein dem deutschen Staatsrecht
bisher völlig unbekanntes Rechtsinstitut gewesen sei“, und die Annahme, daß das