8 56. Gesetze im formellen Sinne. 65
vom 23. November 1870 vielfach in Bezug auf Bayern beschränkt oder
ausgeschlossen, wodurch selbstverständlich die Befugnis des Reiches
zur Normierung gewisser Angelegenheiten, sowohl in der Form des
Gesetzes als auch in der Form der Verordnung, abgewendet werden
soll e. Andererseits bedeutet die Anordnung, daß eine Materie der
Reichsgesetzgebung unterliegt, nicht: daß die Regelung in der Form
des Reichsgesetzes erfolgen müsse, sondern: daß die Reichs-
gewalt überhaupt kompetent sei, diese Materie in verbindlicher Weise
zu regeln. So werden im Art. 4 der Reichsverfassung die Angelegen-
heiten aufgeführt, »welche der Beaufsichtigung des Reiches und der
Gesetzgebung desselben« unterliegen. Hierdurch wird die Befugnis des
Reiches zur Aufstellung rechtsverbindlicher Regeln begründet, nicht
die Form vorgeschrieben, in welcher dieselben aufzustellen sind. In
demselben Sinne kehrt das Wort wieder in Ziff. 13 desselben Artikels,
in Art. 35; 38; 92, Abs. 2, an welchen Stellen der Umfang der Reichs-
kompetenz normiert wird, und ebenso in den zahlreichen Stellen der
Reichsgesetze, in welchen die Regelung irgend eines Gegenstandes der
»Landesgesetzgebung« übertragen oder auf die »Landesgesetze« ver-
wiesen wird. Das Gesetz vom 5. Juni 1869, $ 3 (Bundesgesetzbl. S. 380)
erklärt, daß die Vorschriften der Einführungsgesetze in Kraft bleiben,
»nach welchen unter Landesgesetzen im Sinne des Handelsgesetzbuchs
nicht bloß die förmlichen Gesetze, sondern das gesamte Landes-
recht zu verstehen und in Ansehung der betreffenden Vorbehalte
des Handelsgesetzbuchs die Erlassung maßgebender Vorschriften
auf anderem Wege als auf dem Wege der förmlichen Gesetzgebung,
soweit dies nach dem Landesrecht zulässig, nicht ausgeschlossen ist.«
In demselben Sinne wird der Ausdruck »Landesgesetz«, » Landesgesetz-
gebung« in der Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869, $ 155, im Ein-
führungsgesetze zum Strafgesetzbuch vom 31. Mai 1870, in dem Per-
sonenstands- und Zivilehegesetz vom 6. Februar 1875, 8 11') und vielen
anderen Reichsgesetzen verwendet.
In allen diesen Stellen entspricht das Gesetzgebungsrecht dem
materiellen Gesetzesbegriff. Es kann aber auch die Gesetzgebungs-
befugnis in einer dem formellen Gesetzesbegriff entsprechenden Be-
deutung verstanden werden; d. h. nicht als Kompetenz zur Aufstellung
von Rechtsregeln, sondern als Befugnis, in der Form des Ge-
setzes Willensakte von irgend welchem Inhalte vorzunehmen. Der
Ausdruck kann das Recht des Reichstages oder des Landtages zur
Mitwirkung an dem Erlaß eines Befehles bedeuten. Wenn in einem
souveränen Einheitsstaate eine Verfassungsbestimmung dahin lautet,
daß eine gewisse Anordnung der Gesetzgebung zusteht, so kann das
nicht die Kompetenz der Staatsgewalt bedeuten, sondern es be-
schränkt die Kompetenz des Staatsoberhauptes, es erkennt die
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1) Vgl. die Motive zu diesem Gesetze S. 23.