68 8 57. Die Wirkungen der Reichsgesetze.
gebunggehören, zu ihrem Abschluß die Zustimmung des Bun-
desrates und zu ihrer Gültigkeit die Genehmigung des Reichstages er-
forderlich ist. Obwohl nach dieser Ausdrucksweise es auf den ersten
Blick kaum zweifelhaft erscheint, daß das Wort Reichsgesetzgebung
hier — ebenso wie im Art. 4 — im materiellen Sinne genommen ist,
so ist der wahre Sinn dieses Artikels doch nur dann zu gewinnen,
wenn man unter dem Bereich der Reichsgesetzgebung denjenigen Kreis
von Willensentschlüssen versteht, für welchen die Form des Reichs-
gesetzes notwendig ist. Art. 11, Abs. 2 will Bundesrat und Reichstag
dagegen schützen, daß nicht die Form des Vertrages mißbraucht wer-
den könne, um die Form des Reichsgesetzes zu umgehen!).
5 97. Die Wirkungen der Reichsgesetze.
Die Wirkungen der Gesetze beruhen teils auf der Form, teils auf
dem Inhalt; man hat demnach zu unterscheiden die formelle und die
materielle Gesetzeskraft ?).
Il. Die formelle Gesetzeskraft ist der Rechtssatz, daß ein
in der Form des Gesetzes ergangener Willensakt des Reiches nur im
Wege der Reichsgesetzgebung wieder aufgehoben oder abgeändert wer-
den kann und seinerseits allen mit ihm im Widerspruch stehenden
älteren Anordnungen derogiert. Die formelle Gesetzeskraft entspricht
der Wirkung, welche die Form der Rechtsgeschäfte hat, insofern ein
Vertrag, welcher in einer gesetzlich vorgeschriebenen Form abgeschlos-
sen worden ist (z. B. ein Ehevertrag oder Erbvertrag) nur in der ent-
sprechenden Form abgeändert oder aufgehoben werden kann; zu den
materiellen, auf dem Inhalt des Geschäfts beruhenden Wirkungen
hat dies keine Beziehung. Auf der formellen Gesetzeskraft beruht die
überaus große praktische Wichtigkeit des formellen Gesetzesbegriffes.
Es ist ein Irrtum, anzunehmen, daß der Weg der Gesetzgebung nur
in denjenigen Fällen beschritten wird, in welchen er von Rechts wegen
beschritten werden muß; in zahlreichen Fällen wird der Weg der
Gesetzgebung gewählt, in denen die Regierung auch im Wege der Ver-
ordnung das Ziel erreichen könnte ?), oder es werden in die Gesetze
neben solchen Sätzen, für welche die Gesetzesform rechtlich notwen-
dig ist, mit Rücksicht auf den Zusammenhang, die Vollständigkeit und
1) Vgl. unten die Lehre von den Staatsverträgen S 60 ff.
2) DyroffS. 894 ff. unterscheidet in der Gesetzeskraft die Bestandsgarantie
und die Gültigkeitsgarantie und zerlegt die letztere in die Kompetenzgarantie und
Aenderungskraft und führt diese Analyse scharfsinnig durch; ich kann mich aber nicht
überzeugen, daß diese scholastischen Distinktionen von praktischer Bedeutung sind
oder die theoretische Erkenntnis fördern.
3) Sehr treffend äußert sich hierüber G. Meyer bei Grünhut VII, S. 26—33,
welchem sich Schulze, Deutsches Staatsrecht I, S. 520 anschließt. Vgl. auch
Gneist in v. Holtzendorffs Rechtslexikon (3. Aufl.) III, S. 1064 und Jellinek
S. 256 fg.