162 II. Geschichtl. Entwickelung des staatl. Rechtszustandes in Deutschland.
was durchaus in keine Verfassungsurkunde, sondern lediglich in die
Specialgesetzgebung zu gehören schien; ja der Entwurf machte beim
ersten Anblick den Eindruck eines Aggregats scheinbar wıllkür-
licher und unzusammenhängender Einzelbestimmungen. |Bei näherer
Betrachtung wurde aber dem geübtern politischen Blicke klar, ‚dass
der Entwurf aus keinen abstrakten Postulaten und theoretischen
Schulbegriffen, sondern aus den realen Zuständen und praktischen
Bedürfnissen der Gegenwart hervorgewachsen, dass er das Resultat
der gegebenen konkreten Staatsverhältnisse sei, wie sie nach dem
grossen Kriege thatsächlich in Deutschland vorlagen.
Neben dieser praktischen Richtung des Entwurfes ist sein »Aln-
schlussan gewohnte frühere Verhältnisse« nicht zu ver-
kennen. Derselbe schliesst sich weniger an ausserdeutsche Vor-
bilder, z. B. die nordamerikanische Bundesverfassung, ebenso
wenig an den Entwurf der deutschen Reichsverfassung vom 28. März
1849, sondern vielmehr an die bis dahin in |Deutschland wirklich
bestandenen Einrichtungen an, den deutschen Bund, den Zoll-
verein ‚und selbst das ältere deutsche Reich. Kurz der Entwurf
sucht mit staatsmännischem Sinne zwischen den praktischen For-
derungen der Gegenwart und den geschichtlich gegebenen Ver-
hältnissen zu vermitteln. Die den norddeutschen Staaten zugedachte
Verfassung konnte weder in der Form eines Einheitsstaates, noch
in der des blossen Staatenbundes gedacht werden. Die erste machte
dıe vertragsmässig gesicherte Fortexistenz der Einzelstaaten unmög-
lich, die zweite würde den Bedürfnissen der Nation nicht Genüge
geleistet haben. Es blieb daher nur dieForm des Bundesstaates
übrig und es wurde bald allseitig anerkannt, dass die neuentwor-
fene norddeutsche Bundesverfassung unter die allgemeine Kategorie
des Bundesstaates falle. Aber man hielt sich dabei nicht an die
schulmässige Schablone des Bundesstaatsbegriffes, wie sie aus der
nordamerikanischen Verfassung abstrahirt worden war, sondern
passte denselben den gegebenen norddeutschen Verhältnissen in
durchaus origineller Weise an. Bei den weitaus überwiegenden
Machtverhältnissen des preussischen Staates wäre es eine leere Fik-
tion gewesen. wenn man eine von den Einzelstaaten völlig getrennte
Centralgewalt hätte schaffen wollen. Es kam vielmehr darauf an,
die bereits in der Staatsmacht Preussens thatsächlich vorhandene
Präponderanz auch staatsrechtlich zur Anerkennung zu bringen.
Darum erhielt in allen Angelegenheiten, wo es auf eine einheitliche
und energische Leitung ankommt, die Krone Preussen als solche
die Befugnisse der Centralgewalt, sodass sich der norddeutsche Bund