Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechtes Erstes Buch Das Deutsche Landesstaatsrecht (1)

Von den Staatsämtern. 325 
Befehle oder Verfügungen, welche nicht in vorschriftsmässiger 
oder amtlicher Form ertleilt worden sind, haben keine verbind- 
liche Kraft. Zur formellen Prüfung gehört aber auch die Beantwor- 
tung der Frage nach der Kompetenz und zwar in doppelter Rich- 
tung, der Beamte hat zu prüfen, erstens ob die befehlende Behörde 
kompetent ist, den Befehl zu erlassen, zweitens ob er selbst, dler be- 
auftragte Beamte, kompetent ist, die ihm aufgetragene Handlung 
vorzunehmen. Die erste Frage beantwortet das preussische Ober- 
tribunal dahin: »In dem Merkmal der Rechtmässigkeit ist das 
Postulat enthalten, dass der Befehl, um dessen Vollstreckung es 
sich handelt, an den untergeordneten Beamten von der örtlich und 
sachlich zuständigen Behörde erlassen, dass Behörde oder Beamter, 
von dem er ausgegangen, bei dessen Erlasse im Allgemeinen (in 
abstracto; innerhalb des Kreises ihrer Befugnisse sıch 
gehalten habe.« (Erkenntniss vom 19. Jan. 1872. Goldammer' 
Archiv B. XX. S. 94.) Derselbe Gerichtshof sprach sich in Betreff 
der zweiten Frage dahin aus: »Der untergebene Beamte hat unbe- 
denklich seiner Seits zu prüfen, ob der ihm ertheilte Auftrag sowohl 
in örtlicher als in sachlicher Beziehung innerhalb der Grenzen 
seiner amtlichen Befugnisse liegt. Hierüber hinausgehende 
Anordnungen Seiner vorgesetzten Behörde auszufüh- 
ren,ist er nicht gehalten.« (Erkenntniss vom 27. September 
1871. Goldammer’s Archiv B. XIX. S. 819.) Dagegen erklärt 
dieser Gerichtshof in demselben Erkenntnisse: »Dagegen steht dem 
Beamten kein Recht zu, die materielle Richtigkeit seines 
Auftrages zu untersuchen und aus einem derartigen Grunde die Er- 
ledigung zu verweigern.« Damit wird dem Beamten dıe materielle 
Prüfung des ihm ertheilten Befehles abgesprochen, d.h. er hat nicht 
zu untersuchen, ob die vorgesetzte Behörde die bestehenden Gesetze 
richtig ausgelegt und im einzelnen Falle richtig angewendet hat. 
Die moderne Amtsorganisation beruht auf der stufenweisen 
Ueber- und Unterordnung der Behörden. Nur so ist die 
nothwendige Einheit der Verwaltung, die planmässige Durchführung 
der Staatsaufgaben in Einem Geiste zu erreichen. Wollte man 
jedem Unterbeamten in jedem einzelnen Falle überlassen, das Ge- 
setz in seinem Sinne, abweichend von der Oberbehörde auszulegen, 
so würde man, bei der Möglichkeit verschiedenartigster Auslegung 
der Gesetze, die dienstmässige Unterordnung der Behörden, ja die 
ganze Disciplin des Beamtenstandes auflösen und die wirksame 
Ausführung jeder noch so wichtigen Staatsmassregel von jedem 
H.Schulze, Deutsches Staatsrecht. 232
	        
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