2. Die Staatsgewalt. 29
Rechtssätzen. Ausserhalb des Staates, wie im Staate ist auch das
Gewohnheitsrecht ein bedeutsamer Faktor der Rechtserzeugung.
Aber je mehr der Staat seiner selbst bewusst wird und seine Zwecke
klar ins Auge fasst, um so mehr nimmt er die Rechtssetzung selbst
in die Hand, besonders auf dem Gebiete des öffentlichen Rechtes.
Seine eigene Organisation und die Rechtsordnung seiner Thätigkeit
steckt er durch sein eigenes Gesetz ab. Die Verbindlichkeit des
Gesetzes beruht auf der Autorität der Obrigkeit, welche einen von
ihr aufgestellten Rechtssatz den Staatsgenossen zu befolgen befiehlt.
Die rechtsetzende Thätigkeit ist die höchste staatliche Willensäusse-
rung, an welche die gesammte übrige Staatsthätigkeit gebunden ist.
Aber ein Staat, welcher sich mit Aufstellung und Sanktion von
Rechtssätzen begnügen würde, wäre verloren. Gesetze sind abstrakte
Sätze. welche erst durch die übrige Staatsthätigkeit praktische
Wirksamkeit empfangen.
2) Der Staat richtet, d.h. er stellt das verletzte Gesetz durch
Eingreifen in die Rechtssphäre der verletzenden Individuen wieder
her. Nicht der einzige, wohl aber der ursprüngliche und oberste
Zweck des Staates ist die lerstellung und Vertheidigung der
Rechtsordnung gegen Verletzungen jeder Art, mögen diese gegen
den Staat in seiner Gesammtheit oder gegen einzelne Individuen
gerichtet sein. Bei dieser Thätigkeit der Staatsgewalt kommt die
unwandelbare, rücksichtslose Anwendung des Gesetzes allein zur
Geltung. Zweckmässigkeitsgründe und Erwägungen des öffent-
lichen Wohles liegen der richterlichen Thätigkeit fern. Es ist un-
richtig, das Eigenthümliche des Gerichtes blos im Urtheilen, in der
logischen Funktion der Subsumtion des Falles unter die Regel zu
suchen. Das Urtheilen kommt einerseits ebenso gut auch auf andern
Gebieten der Staatsthätigkeit vor, andrerseits erschöpft es die Thä-
tigkeit des Gerichtes nicht. Das Wesen des Gerichtes liegt nicht
im Urtheilen, sondern im Richten, d.h. in der Gewährung des
Rechtsschutzes, in der Wiederherstellung des Rechtes bei vorge-
kommenen Rechtsverletzungen. Kraft ihrer obrigkeitlichen Funk-
tion üben die Gerichte Zwang gegen das Individuum aus, leiten den
Process und vollstrecken schliesslich das Urtheil durch Eingriff in
die sonst unantastbare Rechtssphäre des Individuums. In der rich-
terlichen Thätigkeit tritt die Staatsgewalt, in ihrer erhabenen speci-
fischen Mission, als Schützerin und Wiederherstellerin der Rechts-
ordnung im Staate auf.
3 Der Staat verwaltet oder regiert. Mit steigender