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Von der Volksvertretung oder dem Landtage. 455
sammensetzung der Landtage den älterın deutschen Lan-
desverfassungen anschloss und deshalb auch die Bezeichnung
»Landstände« allgemein beibehielt, so suchte man doch in diese
alte. nur wenig veränderte Form einen neuen staatsrechtlichen In-
halt zu giessen. War den alten Landständen wenigstens in ihrer
Gesammtheit ein gewisser Repräsentativcharakter des ganzen
Landes nicht abzusprechen, so war doch dieses Princip ein unent-
wickeltes, sekundäres. Alle neuern Verfassungen seit 1815 stellen
es dagegen als einzig entscheidenden Gesichtspunkt auf, dass die
Landstände ın erster Linie das Wohl der Gesammtheit, das wahre
Interesse des Staates, zu vertreten hätten. Ja, auch alle einzelnen
Mitglieder derselben sollten, trotz ihrer beibehaltenen ständischen
Ernennung, als Vertreter des ganzen Volkes betrachtet werden, wie
die bayerische Verfassung von 1818 die Abgeordneten schwören
lässt: »nur des ganzen Landes allgemeines Wohl und Bestes ohne
Rücksicht auf besondere Stände und Klassen, nach Ueberzeugung
zu berathen«. Die Vertretung soll, auch wenn sie nach Ständen
gegliedert ist, eine nationale sein und die Einheit des Volkes und
Staates, nicht das Auseinandergehen in ständische Sonderinteressen
darstellen. Ein Blick in die geschichtliche Entwickelung des letzten
Jahrhundertes lehrt uns freilich, dass sich auch in der Zusammen-
setzung der neuern Vertretungskörper das ständische Princip immer
mehr verliert. An seine Stelle trat hie und da eine Vertretung nach
Interessengruppen, ein Vermögenscensus, seit dem Jahre 1848 so-
gar vielfach das allgemeine unbeschränkte Wahlrecht aller Staats-
bürger, welches, trotz schwerer politischen Bedenken und seines
atomistischen Charaktersl, immer tiefer in die Verfassungen der
deutschen Staaten einzudringen im Begriffe steht. Ob sich auf
dieses mechanische Kopfzahlsystem dauernde staatliche Institutionen
gründen lassen, ist freilich eine andere Frage.
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II. Grundgedanke und juristischer Charakter der heutigen Volks-
vertretung.
Um die staatsrechtliche Stellung der Volksvertretung in den
deutschen Einzelstaaten festzustellen, sind drei Beziehungen der-
selben ins Auge zu fassen, und zwar die zum vertretenen Volke.
die zum Monarchen oder Staatsoberhaupte, die zum Staate in
seinem Gesammtorganismus.
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