Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechtes Erstes Buch Das Deutsche Landesstaatsrecht (1)

Von der Volksvertretung oder dem Landtage. 465 
entgegenstehen, ist anzunehmen, dass auch ein lebenslängliches 
Mitglied der ersten Kammer berechtigt ist, auf seine Stelle jeder 
Zeit zu verzichten. Die Lebenslänglichkeit bildet nur den Ge- 
gensatz zu eincr periodischen, begrenzten Zeitdauer des Amtes. Wie 
der lebenslänglich angestellte Staatsdiener sein Amt, ja wie das 
Staatsoberhaupt selbst die erhabenste Stelle im Staate jeder Zeit 
aufgeben kann, so kann eine solche Befugniss auch einem Mitgliede 
der ersten Kammer nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen nicht ab- 
gesprochen werden. 
$ 176. 
Zusammensetzung der zweiten Kammer oder des Abgeordneten- 
hauses. 
Während bei der Zusammensetzung der ersten Kammer dic 
königliche Ernennung, die Erblichkeit, die Lebenslänglichkeit der 
Mitglieder vorwiegt, ist die zweite Kammer überall vorherrschend 
eine Wahlkammer. Dasselbe ist auch da der Fall, wo überhaupt 
nur Eine Kammer besteht, doch pflegt hier das vorherrschende Ele- 
ment der allgemeinen Volkswahlen durch einen Zusatz von beson- 
ders qualificirten Abgeordneten ermässigt zu sein; so werden den 
Grossgrundbesitzern, welche jetzt meistens an die Stelle der Ritter- 
gutsbesitzer getreten sind, den Höchstbesteuerten, den Geistlichen 
u.s. w. eine bestimmte Anzahl von Abgeordneten eingeräumt, um 
diesen bedeutsamen, aber numerisch in der Minderzahl befindlichen 
Elementen den ihnen entsprechenden Einfluss zu sichern. In vielen 
Verfassungen sind die Städte und die Landgemeinden als \Wahl- 
körper getrennt. Hie und da wird auch grösseren Städten cine be- 
sondere Vertretung in den zweiten Kammern eingeräumt. Bisweilen 
wird der gemeinsame Landtag aus Sonderlandtagen zusammenge- 
setzt, so in Koburg und Gotha, so in Waldeck und Pyrmont. Wo 
das allgemeine Wahlrecht in eine Landesverfassung eingedrungen 
ist, ist dasselbe regelmässig durch das sog. Dreiklassensystem 
(vergl. darüber Anmerkung am Ende des $) ermässigt, so in Preussen 
und Oldenburg. Im ganzen besteht eine solche Mannigfaltigkeit in 
der Zusammensetzung beider Kammern, dass auf eine in der Schluss- 
anmerkung versuchte kurze statistische Uebersicht verwiesen wer- 
den muss, während hier nur die allgemeinen juristischen Princi- 
pien über Wahl und Wahlrecht erörtert werden können. 
Die Vorschriften über die Wahlen sind theils in der Verfas- 
sungsurkunde, theils in besonderen Wahlgesetzen enthalten.
	        
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