Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechtes Erstes Buch Das Deutsche Landesstaatsrecht (1)

556 II. Von den Funktionen des Staatsorganismus. 
deutung nach eine wesentliche Vervollständigung der Verfassung 
des Reiches und sämmtlicher Einzelstaaten. (W. Endemann 
a.a. 0.8.45.) 
$ 198. 
1) Staatlicher Charakter aller Justiz. 
In den meisten Staaten Deutschlands bestand bis zum Jahre 
18158 eine mehr oder minder ausgedehnte Patrimonualgerichtsbar- 
keit der Standesherren, der Rittergutsbesitzer, der Städte, wenn die- 
selbe auch nur unter der Oberaufsicht des Staates nach gesetzlichen 
Vorschriften ausgeübt werden durfte. Dagegen erklärte die Reichs- 
verfassung vom 29. März 1849: »Alle Gerichtsbarkeit geht 
vom Staate aus« Dies gab die Veranlassung zur Aufhebung 
der Patrimonialgerichtsbarkeit ın vielen Einzelstaaten, wie z. B. in 
Preussen durch Art. 42 der Verfassungsurkunde vom 31. Januar 
1850, sowie durch die Verordnung vom 2. Januar 1849, jede Art 
der standesherrlichen, grundherrlichen und städtischen Gerichts- 
barkeit, sowie die geistliche Gerichtsbarkeit in weltlichen Sachen, 
beseitigt wurde. In anderen Staaten erhielt sich dieselbe bıs auf 
die neueste Zeit, wo das Reichsgerichtsverfassungsgesetz $ 15 den 
Satz aussprach: »Die Gerichte sind Staatsgerichte. Die 
Privatgerichtsbarkeit ist aufgehoben; an ihre Stelle tritt 
die Gerichtsbarkeit desjenigen Bundesstaates, in welchem sie aus- 
geübt wurde. Präsentationen für Anstellungen bei den Gerichten 
finden nicht statt. Die Ausübung einer geistlichen Gerichtsbarkeit 
in weltlichen Angelegenheiten ist ohne bürgerliche Wirkung. Dies 
gilt besonders bei Ehe- und Verlöbnisssachen«. In ganz Deutsch- 
land giebt es somit keine Privatgerichtsbarkeit mehr, weder der 
Standesherren, noch der Rittergutsbesitzer und Städte. Alle Ge- 
richte sind entweder Staatsgerichte desReiches oder 
der Einzelstaaten. Auch die in Preussen einzelnen Standes- 
herren gewährten Präsentationsrechte von Richtern sind ab- 
geschafft; es findet nur ein direktes Ernennungsrecht durch die 
Reichs- oder die Landesregierungen statt. Die geistliche Gerichts- 
barkeit wird nicht aufgehoben, aber es wird ihr, soweit sie sich auf 
weltliche Angelegenheiten, d. h. auf solche Sachen bezieht, die zur 
Kompetenz der Staatsgerichte gehören, jede bürgerliche Wirkung 
versagt, d. h. jede Anerkennung und Hülfe von Seiten der Staats- 
gewalt und ihrer Organe, namentlich der Staatsgerichte. (Ende- 
mann a.a. 0.8. 68.)
	        
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