Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechtes Erstes Buch Das Deutsche Landesstaatsrecht (1)

558 II. Von den Funktionen des Staatsorganismus. 
urkunde vom 31. Januar 1850, Art. 86 folgende Formulirung: »Die 
richterliche Gewalt wird durch unabhängige, keiner andern Autorität 
als der des Gesetzes unterworfene Gerichte ausgeübt«. welche fast 
wörtlich in das Reichsgerichtsverfassungsgesetz vom 27. Januar 1877 
übergegangen ist und daselbst $ 1 lautet: »Die richterliche 
Gewalt wird durch unabhängige, nur dem Gesetze 
unterworfene Gerichte ausgeübt.« Damit hat der ın dem 
deutschen Rechtsbewusstsein längst begründete, ın allen Ver- 
fassungen anerkannte Grundsatz von der Unabhängigkeit der Ge- 
richte seine ausdrückliche gemeinrechtliche Sanktion für ganz 
Deutschland erhalten. Danach kann die Gerichtsbarkeit in allen 
bürgerlichen und peinlichen Sachen nur durch die ordentlichen, 
verfassungsmässig bestellten Gerichte ausgeübt werden, welche 
innerhalb der Grenzen ihres Berufes, d.h. in ihrer eigentlichen 
richterlichen Wirksamkeit, selbständig und unabhängig und keiner 
anderen Autorität, als der des Gesetzes unterworfen sind. Selbst 
der Monarch und sein Justizminister sind nicht befugt, einem Ge- 
richte Weisungen zu ertheilen, wie es im einzelnen Falle Recht 
sprechen soll, dahin zielende Reskripte und Kabinetsschreiben hat 
das Gericht unbeachtet bei Seite liegen zu lassen. Durch ihre Be- 
folgung würde ein Richter sogar seinen Amtseid brechen und eine 
schwere Verantwortuug auf sich laden. Auch bedürfen richterliche 
Entscheidungen niemals der Bestätigung einer anderen Person 
oder Behörde zu ihrer Gültigkeit. 
Aber der abstrakte Satz, dass der Fürst und sein Ministerium 
keinen Einfluss üben dürfen auf die Entscheidungen der Gerichte 
als Behörden, das Verbot der sogenannten Kabinetsjustiz, genügt 
nicht. Damitthatsächlich doch ein solcher nicht geübt werde. 
muss auch die persönliche Stellung dereinzelnen Rich- 
tereinemöglichstunabhängige sein, sie müssen in ihrem 
Amte so sicher gestellt sein, dass sie, ohne jede Menschenfurcht, nur 
ihrem Gewissen und ihrer juristischen Ueberzeugung zu folgen und 
aufGunst von oben oder unten keineRücksicht zu nehmen brauchen. 
In diesem Sinne gewährten schon die Verfassungsurkunden der 
Einzelstaaten den Richtern weitgehende Garantien und stellten sie 
sicherer als die Beamten der Verwaltung. Die darauf zielenden 
Sätze der Verfassungen der Einzelstaaten, besonders Preussens, sind 
in das Reichsgerichtsverfassungsgesetz übergegangen und so ge- 
meines Recht für ganz Deutschland geworden. »Die Ernennung 
der Richter erfolgt auf Lebenszeit«e ($ 6). Somit ist der
	        
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