Von der Justiz. 563
Nach älterem deutschem Reichsstaatsrechte waren die Reichs-
gerichte unzweifelhaft berechtigt und verpflichtet, Landesgesetze
und kaiserliche Verordnungen daraufhin zu prüfen, ob sie mit den
Reichsgesetzen in Einklang seien. In Bezug auf kaiserliche Verord-
nungen war dies Recht sogar reichsgrundgesetzlich anerkannt (Wahl-
kapitulation Art. 16.$ 11) und die Reichsgerichte waren angewiesen,
kaiserliche Verordnungen »als kraftlos, todt und nichtig« anzusehen,
welche den mit dem Reichstage vereinbarten Gesetzen wider-
sprachen. Ein gleiches Verhältniss würde sich auch in den einzelnen
Territorien herausgebildet haben, wenn die ursprüngliche Theil-
nahme der Landstände an der Gesetzgebung sich organisch weiter
entwickelt hätte (S. 449). Nur ausnahmsweise aber war im XVII.
Jahrhundert in Deutschland ein allgemeines verfassungsmässiges
Zustimmungsrecht der Landstände zu Gesetzen anerkannt. Selbst
Moser gesteht zu: »Der Landesherr kann seinen Gerichten die
Normen vorschreiben, nach welchen sie Recht sprechen sollen«
(Landeshoheit in Justizsachen S. 178). Erst mit den neuen kon-
stitutionellen Verfassungsurkunden dieses Jahrhunderts erhielt die
im älteren Territorialstaatsrechte kaum zur Sprache gekommene
Frage ihre Bedeutung. Durch diese Verfassungen wurde in allen
konstitutionellen Staaten Deutschlands festgestellt, dass von nun an
ein Gesetz nur durch Uebereinstimmung der Krone und der Volks-
vertretung zu Stande kommen könne. Dieser Satz hat offenbar den
Zweck, dem Willen der Volksvertretung seine organische Bedeutung
im Staatsleben zu sichern, um das oberste Princip des konstitutio-
nellen Rechtsstaates zur Geltung zu bringen, dass das Gesetz der
Ausdruck des verfassungsmässig zu Stande gebrachten, objektiven
Staatswillens sein soll. Wenn die Staatsgewalt solche Sätze über
(las verfassungsmässige Zustandekommen ihrer eigenen Willens-
erklärungen aufstellt, so ıst nach der Bestimmung solcher Vor-
schriften anzunehmen, dass eine Nichtbeobachtung der-
selben Nichtigkeit alles dessen hervorruft, was im
Wıderspruche mit denselben geschehen ist. Der Richter
hat nur existentes, gültiges Recht anzuwenden und über dessen
Praxis B. XVI. S. 363. H. Bischof, in der Zeitschr. für Civilrecht u. Proc.
N.F. B.XVI, S. 235. 385. B. XVII. S. 104. 253. 418. B. XVII. S. 129. 302.
393. Derselbe, Das Nothrecht der Staatsgewalt in Gesetzgebung und Regie-
rung erörtert (1860), in Linde’s Archiv für das öffentliche Recht des deutschen
Bundes B. III. Heft3. Laband, Staatsrecht des deutschen Reichs B. II. $57.
Eine Kritik der älteren Literatur giebt E. v. Stockmar in der Zeitschr. für
Civilrecht und Proc. N.F. B. X. 11853) S. 15—78 und S. 213—243.
H. Schnlze, Deutsches Staatsrecht. 37