564 II. Von den Funktionen des Staatsorganismus.
Existenz und Gültigkeit nach gewissenhafter Prüfung selbst zu
entscheiden. \Vie er diese Prüfung gegenüber den Erzeugnissen
des Gewohnheitsrechtes anzustellen hat, so auch gegenüber dem,
was sich für Gesetz ausgiebt. Nach der nothwendigen Konsequenz
der konstitutionellen Staatsordnung, wıe nach den Grundsätzen
der deutschen Gerichtsverfassung und der Praxis der höchsten
deutschen Gerichtshöfe!, hat der Richter ein Prüfungsrecht
aller von ihm zur Anwendung zu bringenden Normen; er hat sich
nicht bloss mit den äusseren Requisiten der Publikation zu be-
gnügen, sondern auch zu untersuchen, ob eine solche Norm auf
verfassungsmässigem \Vege zu Stande gekommen ist. Freilich kann
sich dasselbe nie auf eine Beurtheilung der Zweckmässigkeit, Ver-
nünftigkeit, Nothwendigkeit eines Gesetzes beziehen. Der Richter
ist der Diener, nicht der Herr des Gesetzes, aber nur des wahren
Gesetzes, nicht des Scheingesetzes. Indem er ein solches anzu-
wenden verweigert, vertheidigt er nur den objektiven Willen des
Gesetzgebers, der sich im Zusammenwirken der verschiedenen
Organe darstellt, gegen die subjektive Willkür eines Organs,
welches die ihm gesteckten staatsrechtlichen Schranken über-
schreiten will. Daher hat »der Richter das Recht und die Pflicht,
bei Anwendung der Gesetze vorher zu prüfen, ob das, was sich
als Gesetz ankündigt, nach dem bestehenden Verfassungsrecht
wirklich Gesetz ist, ob es namentlich, wo dies die Verfassung vor-
schreibt, mit ständischer Zustimmung erlassen ist. Auch haben
Verordnungen und Erlasse des Staatsoberhauptes oder der Staats-
regierung, deren Inhalt nur in Form des Gesetzes, mit Zustimmung
der Stände hätte aufgestellt werden können, für den Richter keine
verbindliche Kraft«. (Formulirung des Grundsatzes durch den
deutschen Juristentag.)
Man hat nun behauptet, dass der Richter ausser Stande sei, zu
prüfen, ob ein Gesetz verfassungsmässig zu Stande gekommen sei.
Er müsste, sagt man, dann auch prüfen, ob die Wahlen der Wahl-
männer und der Abgeordneten gehörig vor sich gegangen seien, ob
die Geschäftsordnung, Abstimmung, Stimmenzählung u. s. w. ge-
1 Fr. Förster B.I. $9. $S. 31 bezeugt: »Gemeinrechtlich und nach der
Verfassung anderer deutscher Staaten ist es nicht zweifelhaft, dass es zum
Richteramt gehört, zu prüfen, ob eine Verordnung verfassungsmässig Gesetz ist.
Die Praxis der sächsischen, württembergischen, bayerischen, kurhessischen Ge-
richte und des Oberappellationsgerichts zu Lübeck bestätigt, dass die Gerichte
diese Befugniss haben.«