Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechtes Erstes Buch Das Deutsche Landesstaatsrecht (1)

612 II. Von den Funktionen des Staatsorganismus. 
erweiterter Gestalt veröffentlicht wurde. Diese Reichspolizeiord- 
nungen enthalten ein buntes Gemisch der verschiedenartigsten Be- 
stimmungen, betreffend das Münz- und Bücherwesen, Monopolien, 
Ausfuhr von Wolle, wucherliche Kontrakte, Zinsfuss, Judenhandel. 
Fälschung der Weine und des Gewürzes; insbesondere beschäftigte 
sich die Reichspolizei mit Massregeln gegen Gotteslästerung, Fluchen. 
Völlerei, Zutrinken, Kleiderprunk, Aufwand bei Hochzeiten, Kind- 
taufen, Begräbnissen, Kuppelei, Preissteigerungen u.s. w. Man 
dachte damals bei dem Worte Polizei vorzugsweise an Massregeln, 
welche sich auf die Sitten der Unterthanen bezogen. Allein 
diese Verordnungen blieben meistens ohne Erfolg. Es fehlte dem 
Reiche durchaus an geeigneten Mitteln und Anstalten zur Durch- 
führung seiner Polizeigesetze. Immer mehr fiel der Schwerpunkt 
aller produktiven Regierungsthätigkeit aus dem Centrum des 
Reiches in die Peripherie der Territorialgewalten. Unerfüllt blieb 
die im westfälischen Frieden (I. P. ©. Art. VIIL. $ 3. »In proximis 
comitiis de reformatione politiae ex communi statuum consensu 
agatur et statuatur«) verheissene Reformation der Polizei durch die 
Reichsgewalt. Um so thätiger wurde, seit der Zerstörung 
Deutschlands durch den dreissigjährigen Krieg, die Landes- 
hoheit. Nur von der Fürstengewalt allein konnte eine Wieder- 
herstellung der zerstörten Lebensverhältnisse, eine allseitige Sorge 
für das Gemeinwohl, eine schöpferische Regierungsthätigkeit aus- 
gehen. Diese eiserne praktische Nothwendigkeit wurde durch die 
Grundsätze einer neu erwachenden Staatslehre bedeutsam unter- 
stützt, welche das allgemeine Wohl, die salus publica, als höchstes 
Staatsgesetz betrachtete. 
$ 219. 
2) Der eudämonistische Polizeistaat des XVII. und 
XVII. Jahrhunderts. 
Das zeitliche Dasein des Menschen, das Diesseits, welchem 
man im Mittelalter nur die Stellung eines Mittels zum künftigen 
Leben eingeräumt hatte, begann jetzt mehr und mehr als Selbstzweck 
betrachtet zu werden, dessen allseitige vernünftige Ausbildung nicht 
bloss erlaubt, sondern eine natürliche Pflicht sei. Mit dieser Auf- 
fassung begannen auch die Anforderungen, welche man an den 
Staat stellte, sich zu mehren. Diese Richtung geht zuerst vom 
Naturrechte aus, als dessen Begründer Hugo Grotius dasteht.
	        
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