638 II. Von den Funktionen des Staatsorganismus.
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2) Die souveränen deutschen Staaten seit Auflösung
des deutschen Reiches.
Mit der Auflösung des deutschen Reiches war selbst der zwar
öfters illusorische, aber doch nicht ganz werthlose Schutz der Reichs-
gerichte für die deutschen Unterthanen hinfällig geworden. Von
einer obergerichtlichen Gewalt über die deutschen Landesherren
konnte keine Rede mehr sein. Die ordentlichen Gerichte wurden
meistens auf die Entscheidung von Privatrechtsstreitigkeiten
beschränkt. Nur ausnahmsweise wurde ihnen gestattet, gegen Hand-
lungen von Verwaltungsbehörden den Unterthanen Rechtsschutz zu
gewähren, besonders soweit es sich um die blosse Entschädi-
gungsfrage handelte. Sonst war die Entscheidungaller
ins öffentliche Recht einschlagenden Rechtsstreitig-
keiten der Verwaltung selbst überlassen.
In dieser Zeit zeigte sich in den süddeutschen Staaten, welche
in der Rheinbundszeit in engster Verbindung mit Frankreich ge-
standen hatten, eine Vorliebe für die französische Administra-
tivjustiz, welche auch auf die Gesetzgebung dieser Staaten nicht
ohne Einfluss blieb; dieselbe wurde aber von den Anhängern des
Rechtsstaates und der älteren deutschen Gerichtsverfassung in Nord-
deutschland als eine »welsche Einrichtung«, als eine »Ausgeburt des
Napoleonismus« lebhaft bekämpft. Dieser Kampf hatte insofern seine
gute Berechtigung, als die französische Gesetzgebung eine Menge
zur Kompetenz der ordentlichen Gerichte gehörigen Gegenstände
im Interesse des Fiskus denselben entzog und dadurch das deutsche
Rechtsbewusstsein verletzte, zugleich den Verwaltungsgerichten
nicht die nöthige Unabhängigkeit gewährte. Dagegen beruhte
dieser ehrenwerthe Widerspruch zum guten Theile auch auf Miss-
verständniss und auf Unkenntniss der französischen Einrichtungen.
In vieler Beziehung hatte die französische Verwaltungsgerichtsbar-
keit, den damaligen deutschen Zuständen gegenüber, ihre un-
läugbaren Vorzüge und trug zur Fortbildung und Befestigung des
Verwaltungsrechtes wesentlich bei. Besonders wurde die wichtige
Stellung des französischen Staatsraths verkannt, »welcher, als eigent-
licher Regulator des gesammten Verwaltungsrechtes, eine Rechts-
kontrolle über die gesammte Verwaltung ausübt, indem er Klagen
gegen jedes Organ der Verwaltung wegen Ueberschreitung der
Amtsgewalt (exces de pouvoir) zu entscheiden hat« (E. Löning