640 II. Von den Funktionen des Staatsorganismus.
schäftigte liberale Doktrinarısmus den Punkt erkannte, welchen
Gneist als den »archimedischen« bezeichnete.
8 230.
3) Die neueste Gesetzgebung über Verwaltungs-
gerichtsbarkeit in Deutschland.
Der unfruchtbare Streit der dreissiger Jahre über Werth und
Unwerth der Administrativjustiz war zum Schweigen gebracht. Die
herrschende liberale Doktrin hatte ihr Verdikt gegen dieselbe in den
Grundrechten der deutschen Nation $ 49 abgegeben: »Die Ver-
waltungsrechtspflege hört auf; über alle Rechtsver-
letzungen entscheiden die Gerichte.« Es bedurfte erst
tiefgehender Untersuchungen, um den der Verwaltungsgerichtsbar-
keit zu Grunde liegenden gesunden Grundgedanken zu erkennen
und die volle Bedeutung derselben für die Verwirklichung des
Itechtsstaates zu würdigen. Dies gethan zu haben, ist das Verdienst
von Kudolf Gneist, welcher bestimmend auf die Gesetzgebung
der deutschen Staaten in den beiden letzten Jahrzehnten eingewirkt
hat. In seinen Schriften liegt der Wendepunkt unserer ganzen An-
schauungen über Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtspflege.
Vor allem wies Gneist mit schneidender Schärfe die völlige Un-
haltbarkeit der büreaukratischen Ministerialinstanz ın Streitfragen
des Öffentlichen Rechtes nach; er zeigte, dass diese, in Verbindung
mit dem konstitutionellen Parteiregiment, das ganze öffentliche
Recht zur Disposition schnell wechselnder Parteichefs stellt, »zu
einem P’recarium der herrschenden Parteic« macht. Die preussischen
Zustände der Reaktionsperiode, welche nach dem Jahre 18548 als
Rückschlag eintrat, gaben seinen Ausführungen handgreifliche Be-
lege. \Vährend man sonst nur die französische Administrativjustiz
beachtet, freilich auch nicht gründlich studirt hatte, wies Gneist
auf die den englischen Institutionen immanente Verwaltungsgerichts-
barkeit hin und zeigte, wie sich dieselbe dort, auf den Grundlagen
der Selbstverwaltung, zu emem starken Bollwerke der persönlichen
Freiheit auferbaut hat. Die Verbindung der Idee der Selbstverwal-
tung mit der Verwaltungsgerichtsbarkeit wurde von ihm zum ersten
Male hervorgehoben. Nur auf der Grundlage der ersteren schien
ihm dieselbe gesichert, gegenüber der nicht zu überwindenden Un-
selbständigkeit des besoldeten Berufsbeamtenthums. Loslösung der
ganzen Verwaltungsrechtspflege von der wechselnden Ministerial-