52 11. Geschichtl. Entwickelung des staatl. Rechtszustandes in Deutschland.
alle diese besondern Staaten unter einer gemeinsamen höchsten Ge-
walt vereinigt waren. Das Reich hatte seine Reichsgewalt, welcher
de jure die mächtigsten Kurfürsten, wie die kleinsten Reichsgrafen
und Reichsstädte, gleichmässig unterthanfwaren. Das’Reich wurde
als eine juristische Persönlichkeit gedacht, welcher die Reichsgewalt
zustand. (Pütter inst. $ 129: »Immo proprietas jurium, quae a
Caesare exercentur, penes imperium est«.) Aber der Kaiser war
nicht blos höchster Beamter des Reiches, nicht blos Präsident eines
Staatenbundes, sondern Monarch mit persönlicher Unabhängigkeit
und Majestät; aber seine Machtbefugniss war durch die Theilnahme
eines zweiten staatlichen Faktors, des Reichstages, so beschränkt,
dass er ın allen wichtigen Reichsangelegenheiten an dessen Zustim-
mung und Mitwirkung gebunden war. Die Regenten der einzelnen
deutschen Staaten nahmen an der Ausübung der wichtigsten Reichs-
regierungsrechte, als Stände des Reiches, Theil. Ihre kollegialische
Gesammtheit bildete den Reichstag, das Reich im engern Sinne.
Nach der Auffassung der neuern Reichspublicisten stand die Reichs-
gewalt »bei Kaiser und Reich«, d.h. dem Corpus der Reichsstände,
sodass man dem Reichstag ein wahres Co-imperium beilegte. Das
Subjekt der Reichsgewalt war im deutschen Reiche ein zusam-
mengesetztes, d.h. Kaiser und Reich; aber in diesem zu-
sammengesetzten Körper nahm der Kaiser als Reichsoberhaupt doch
immer die oberste Stellung ein. Das monarchische Prinzip war da-
her in der Reichsverfassung nicht konsequent durchgeführt, viel-
mehr durch die im Reichstage vorhandene Mitregierung der
grossen Reichsaristokratie wesentlich modifieirt. Das deutsche Reich
war ein Staatenstaat, bestehend aus zahlreichen verschiedenen Staa-
ten, welche als Unterstaaten der gemeinsamen Staatsgewalt des
Reiches, als ihres Oberstaates, unterworfen waren. "Träger dieser
Reichsgewalt war der Kaiser »im Namen des Reiches«, in Verbin-
dung mit dem aus den Regenten der Einzelstaaten bestehenden
Corpus der Reichsstände.
Mit dieser eigenthümlichen Scheidung einer doppelten Staats-
gewalt in Deutschland, der Territorial- und der Reichsgewalt, hing
auch der Begriff der Reichsunmittelbarkeit und ihres Gegen-
theils, der Reichsmittelbarkeit, zusammen. Bei weitem die mei-
sten Menschen in Deutschland waren dem Reiche nur mittelbar unter-
than, d. h. durch das Medium ihres Landesherrn oder ihrer Obrig-
keit. Nur »wer dem heiligen Reiche ohne alles Mittel unterworfen«,
galt als Reichsunmittelbarer. Dazu gehörten vor allem die Reichs-