646 II. Von den Funktionen des Staatsorganisinus.
zu streitigen Verwaltungssachen stehen einerseits die administra-
tiven Zweckmässigkeits- und Ermessensfragen, andererseits die
bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten aus Privatrechtsverhältnissen.
Von ersteren unterscheiden sich die Verwaltungsrechtssachen
dadurch, dass es sich bei ihnen um wahre Rechtssachen und
eine wirkliche Rechtsprechung handelt, d. h. um den Schutz
eines verletzten subjektiven Rechtes, nicht bloss eines persönlichen
Interesses, und es müssen bestimmte gesetzliche Normen der Ent-
scheidung vorliegen, ohne welche eine Rechtsprechung überhaupt
nicht stattfinden kann. Durch diese Merkmale scheidet sich das
Gebiet der Verwaltungsrechtspflege von dem der Verwaltungs-
behörden. Der aktiven Verwaltung ist ein weiter Spielraum ihrer
freien Thätigkeit gegeben, wo sie nach ihrem besten Wissen und
Gewissen für die ihr gesteckten Aufgaben arbeiten kann. Hier ist
ein weitgehendes persönliches Ermessen, ein »pouvoir discretionaire«,
gegeben, ohne welches kein Zweig der Verwaltung eine schöpferische
Thätigkeit entfalten kann. »Ausgeschlossen ist jede Klage, wann
und soweit die Verwaltungsbehörden durch das Gesetz nach ihrem
Ermessen zu verfügen ermächtigt sind.« (Württembergisches Ge-
setz $ 13.) Aber mit höherer Ausbildung des Verwaltungsrechtes
werden dem Ermessen der Verwaltung auf allen Gebieten gesetz-
liche Schranken gezogen und die Voraussetzungen normirt, unter
welchen die Verwaltungsorgane in die Sphäre des Individuums ein-
greifen dürfen. \Vo den Verwaltungsorganen also nicht bloss Sonder-
Interessen, sondern subjektive Rechte in dem oben bezeichneten
Sinne gegenüber stehen, können sie mit denselben ın Kollision ge-
rathen und muss letzteren ein wirksamer Rechtsschutz zu Theil
werden, wenn sie nicht bloss auf dem Papier stehen sollen, wie die
weilaud Grundrechte der deutschen Nation. Wo die Kollision der
verwaltenden 'Thätigkeit der Staatsbehörden mit subjektiven Rechten
eintritt und das verletzte Subjekt sein Recht vertheidigen will, be-
ginnt der Bereich der Rechtsprechung. Bisher sprach sıch in solchen
Fällen die Verwaltung regelmässig selbst das Recht. Die ver-
waltenden Behörden entschieden über die Reklamationen der ver-
letzten Individuen und übten somit eine weitgehende Grerichtsbarkeit
des öffentlichen Rechtes, meist ohne jede Scheidung des Verfahrens
in Verwaltungssachen und Verwaltungsrechtssachen. Gewisser-
maassen als Richter in eigener Sache, boten sie dem verletzten In-
dividuum, selbst bei beabsichtigter Unparteilichkeit, keine ent-
sprechenden Garantien. Die hier besprochene neueste Gesetzgebung