Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechtes Erstes Buch Das Deutsche Landesstaatsrecht (1)

662 II. Von den Funktionen des Staatsorganismus. 
schränkten Umfange dieser Konstituirung, ein vom Rechte erfass- 
barer Begriff. Jede grössere Gemeinschaft, mag sie auch noch so 
idealen Zwecken dienen, kann auf die Dauer emer Rechts- 
ordnung nicht entbehren, sowohl um ihre Ordnung gegen die 
Mitglieder nach innen aufrecht zu erhalten, als auch um sich 
nach aussen hin zu behaupten und abzugrenzen. Dieses Bedürf- 
niss macht sich auch im kirchlichen Leben geltend. Die durch den 
christlichen Glauben verbundenen Gemeinden konstituiren sich als 
Kirchen, geben sich, kraft ihrer Autonomie, Satzungen, schaffen 
sich kirchliche Organe für verschiedene Aufgaben, errichten ein 
Kirchenregiment. Die so konstituirte Kirche ist damit 
ein Rechtsbegriff. 
Wenn eine Kirche von ihrem kirchlichen Gesichtspunkte aus 
ihre Aufgabe als die erhabenste Mission der Menschheit ansieht, 
wenn sie ım Vollbesitze aller Glaubenswahrheiten zu sein meint, so 
ist sie, trotz dieser idealen Auffassung von ihrem Berufe, dem 
Staate gegenüber, nur eine der vielen Gemeinschaften, deren 
Rechtssphäre er abzustecken, deren Kollision mit andern Rechts- 
gebieten er möglichst zu verhüten hat. Der Staat kennt nicht 
die Kirche, sondern nur eine Kirche, der Staat hat nicht ein 
Interesse an einer Kirche, weil er die Lehre derselben für die einzig 
wahre hält, — darüber steht ihm als einer weltlichen Gemeinschaft 
kein Urtheil zu — sondern weil er in der Pflege der Religion über- 
haupt ein wichtiges Kulturelement, eine Stütze seiner eigenen 
ethischen Aufgabe erkennt. Der Staat der Gegenwart hat sich aber 
auch davon überzeugt, dass das Reich der Kirche mit dem seinigen 
nicht zusammenfällt, dass die unmittelbare Pflege der Religion 
nicht zum Staatszwecke gehört, dass er sein und ihr Leben schädigen 
würde, wenn er die Staatsherrschaft in das eigenthümliche Gebiet 
der Kirche hinübertragen würde. Die Selbständigkeit dieser 
beiden Lebensordnungen erkannt zu haben, ist ein 
unverlierbarer Gewinn unseres modernen Rechts- 
bewusstseins. Aber die Kirche, welche in einer Verfassung 
zeitlich und örtlich Gestalt gewonnen hat, ist doch nichts anderes, 
als eine Gemeinschaft im Staate. Aber alles, was in einem staatlich 
organisirten Volke ins Rechtsgebiet tritt, ist der Staatsgewalt unter- 
geordnet. Zwei gleichberechtigte souveräne Mächte 
sindinnerhalb desselben Staatesundenkbar. Der Staat 
hat deshalb die rechtliche Stellung einer Kirche innerhalb seines 
Volkes und seines Gebietes durch sein Staatsgesetz zu bestimmen.
	        
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