Das Rechtsverhältniss des Staates zur Kirche. 663
Wie überhaupt, so ist auch hier die Gesetzgebung des Staates
formell unbeschränkt (S. 27, 534), materiell aber an Grund-
sätze gebunden, welche sie ohne Schädigung des Rechtsbewusstseins
nicht verletzen kann. Unzweifelhaft kann der Staat durch seine
Gesetzgebung der Kirche Unrecht thun, indem er das ihr eigen-
thümliche Lebensprinzip verkennt und in ihre Ordnungen mehr, als
das staatliche Bedürfniss unbedingt erheischt, eingreift. Formell
sind solche Gesetze gültig; der verletzten Kirche bleibt nichts übrig,
als auf ihr gutes Recht und die Unzerstörbarkeit ihres tieferen Ge-
haltes zu vertrauen und mit allen gesetzlichen Mitteln auf die Auf-
hebung von Gesetzen hinzuwirken, welche ihr Unrecht zugefügt
haben. In der Kraft einer gesunden Öffentlichen Meinung, in dem
immer mehr durchdringenden Bewusstsein, dass die Kirche dem
Staate gegenüber eine selbständige Lebensordnung in Anspruch
nehmen kann, liegt die sicherste Schutzwehr gegen Uebergriffe der
Staatsgewalt, welche kein, jeder Zeit wieder zu beseitigender Ver-
fassungsartikel bieten kann. Ueberhaupt reicht kein noch so feier-
lich verbriefter Satz aus, für alle Zeiten die Schranken festzu-
stellen, innerhalb deren diese beiden grossen Gemeinwesen ihre
Zwecke zu verfolgen haben. Die Grenze zwischen Kirche und
Staat ist im ewigen Flusse der geistigen Bewegung der Jahrhunderte
begriffen und kann nur für konkrete Zeitverhältnisse und Volks-
zustände normal geregelt werden. Hier ist unsere Darstellung auf
das deutsche Reich und seine Staaten beschränkt.
I. Geschichtliche Entwickelung des Rechtsverhältnisses zwischen
Staat und Kirche in Deutschland.
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1) Die mittelalterige Oberherrlichkeit der Kirche
über den Staat!.
Nachdem die christliche Kirche zur Staatskirche des römischen
Reiches erklärt worden war, wırkten die altrömischen Traditionen
so mächtig fort, dass der Kaiser ebensowohl als das Oberhaupt des
Staates, wie der Kirche, als die Spitze der geistlichen und der welt-
1 Unsere kurze Darstellung beruht hier besonders auf den oben erwähnten
Schriften E. Friedberg’s, besonders auf der Schrift »de finium inter ecelesiam
et civitatem regundorum judicio, quid medii aevi doctores et leges statuerint.
Lipsiae 1861«, welche jetzt durch das gelehrte Hauptwerk desselben Verfassers
über die Grenzen zwischen Staat und Kirche vervollständigt wird. Eine um-