Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechtes Erstes Buch Das Deutsche Landesstaatsrecht (1)

676 II. Von den Funktionen des Staatsorganismus. 
Gehorsam gegen den Staat, sittlich gute Gesinnung ihren Mitgliedern 
einflösst«. Die landrechtliche Gesetzgebung nimmt für den Staat 
somit das Reformationsrecht vollständig in Anspruch, ebenso das 
preussische Patent, »die Bildung neuer Religionsgesellschaften betr.« 
vom 30. März 1847. Auf diesem Standpunkte stehen sämmtliche 
deutsche Verfassungen vor dem Jahre 1848, z. B. Württemb. Verf. 
18198 70. Grossherzogth. Hessen 1820 $ 21. Königr. Sachsen 1831 
& 56. Hannov. Landesverf. 1840 & 63, indem sie nur den reichs- 
und bundesgesetzlich anerkannten und den künftig noch be- 
sonders anzuerkennenden Religionsgesellschaften die öffentliche 
Religionsübung zusichern. Erst die Grundrechte :der deutschen 
Nation stellten Art. V. $ 17 den Satz auf: »Neue Religions- 
gesellschaften dürfen sich bilden; einer Anerkennung 
ihres Bekenntnisses durch den Staat bedarfies nicht.« 
Je nachdem dieser Grundsatz in die Gesetzgebung der Einzelstaaten 
übergegangen ist oder nicht, weisen dieselben noch jetzt Ver- 
schiedenheiten auf. Einige geben die Bildung von Religionsgesell- 
schaften ganz frei und gewähren allen ohne Unterschied volle 
häusliche und öffentliche Religionsübung (Preuss. V. U. Art. 12. 
Coburg-Goth. St. G. G. $ 33. Württemb. Gesetz vom 9. April 
1872. Hess. Ges. vom 23. April 1875 Art. 2 und 3). Nach diesen 
Gesetzen äussert sich das Reformationsrecht des Staates nur noch 
in der Ertheilung von Korporationsrechten und der Verleihung be- 
sonderer Privilegien. (Soin Preussen, vergl. mein preuss. Staatsr. 
B.I.S.699.) Andere gewähren zwar das Recht der freien Vereinigung 
zu Religionsgesellschaften, dagegen keine Gleichheit der Religions- 
übung, die Art derselben richtet sich nach besonderen Verwilligungen 
(Bad. Gesetz vom 9. Oktober 1860 $$ 2 und 3). Noch andere end- 
lich haben an dem Erfordernisse staatlicher Genehmigung für die 
Bildung neuer Religionsgesellschaften unbedingt festgehalten. (So 
Bayern, Religionsedikt $$ 3. 26. Sächs. Ges., die Einführung der 
Civilstandsregister u. s. w. betr. vom 20. Juni 1870 $ 21 u. s. w.) 
Das deutsche Kirchenstaatsrecht der Gegenwart unterscheidet 
noch dreierlei Arten von Religionsgesellschaften, je nach ihrer 
rechtlichen Stellung zum und im Staate: 
1) Die katholische und die evangelische Kirche 
nehmen, wegen ihrer engen Beziehung zum Staate, die Stellung 
öffentlich-rechtlicher Korporationen ein; sie geniessen 
einen besonderen rechtlichen Schutz, ihre Geistlichen sınd ın 
vielen Beziehungen den Staatsbeamten gleich gestellt, sie erhalten
	        
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