Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechtes Erstes Buch Das Deutsche Landesstaatsrecht (1)

678 Il. Von den Funktionen des Staatsorganismus. 
Verletzung und Gefährdung der staatlichen Rechtsordnung von 
Seiten der Kirche oder ihrer Angehörigen mit sich führen könnte. 
Gestützt auf diese fortwährende Kenntnissnahme, übt der Staat 
dieses Oberaufsichtsrecht aus rein staatlichen Gründen, 
indem er für die Sicherheit der eigenen Existenz sorgt; ja es kann 
als ein unveräusserlicher Bestandtheil der Kirchenhoheit gar nicht 
aufgegeben werden, wenn seitens einer Religionsgesellschaft ver- 
letzend in das Gebiet des Staates oder anderer Religionsgesellschaften 
übergegriffen wird oder eine solche Verletzung zu befürchten steht. 
Im Widerspruch mit der mittelalterigen Kirchenlehre hat das 
deutsche Staatsrecht der Staatsgewalt die Gesetzgebung und das 
Oberaufsichtsrecht über die Kirche als einen selbstverständlichen, 
unverzichtbaren Theil der staatlichen Hoheitsrechte beigelegt. 
Daran wollte auch der an sich richtige Satz der Grundrechte Art. V 
8 17 nichts ändern: »Jede Religionsgesellschaft ordnet 
und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig, 
bleibt aber dabei den allgemeinen Staatsgesetzen 
unterworfen.« Nach den Motiven und der Entstehungsgeschichte, 
wie nach der Wortfassung des Artikels konnte niemand daran 
zweifeln, dass dem Staate sein Gesetzgebungs- und Oberaufsichts- 
recht über die Kirche dabei gewahrt werden sollte. Man wollte 
mit diesem Artikel allerdings vein Bevormundungssystem, wie es in 
verschiedenen Staaten bestanden hatte und den Staatsbehörden eine 
Direktion und Leitung von inneren, sogar zum Theil eine Ent- 
scheidung sakramentaler Fragen und eine Aufsicht über die Kirchen 
nach freiem Ermessen der aufsehenden Behörde einräumt, be- 
seitigen«, man wollte aber dem Staate sein gesetzlich geordnetes 
Aufsichtsrecht wahren, welches die Staatsbehörden freilich 
nicht beliebig, nach willkürlichen und polizeilichen Gesichtspunkten, 
sondern nurnach Maassgabe des Gesetzes ausüben dürfen!. 
Die durch die Grundrechte der deutschen Nation verkündigte 
Selbständigkeit der Kirche innerhalb ihrer Sphäre, bezüglich ihrer 
inneren Verhältnisse, natürlich unter Vorbehalt des Gesetzgebungs- 
und Oberaufsichtsrechtes des Staates, ist ein grosser Grundsatz des 
modernen Rechtsbewusstseins, in dessen Festhaltung uns kein 
augenblicklicher Missbrauch irre machen kann. Freilich gilt es, 
den an sich richtigen Satz, wenn er durch seine Allgemeinheit und 
1 Th. Woltersdorf, Das preussische Staatsgrundgesctz und die Kirche. 
Berlin 1873. S. 295 ff.
	        
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