310 IV. Buch. Die Erledigung der Staatenstreitigkeiten.
des besetzten Landes, das selbständige Eingreifen seiner Verwaltungs-
tätigkeit werden und mit ihr das seiner Gesetzgebung. Die Versorgung
der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Rohstoffen, das gesamte wirt-
schaftlicha Leben, Bau von Straßen, Eisenbahnen und Brücken, Kom-
munalverwaltung und Rechtsprechung (wenn etwa Richter und An-
wälte, wie in Polen, geflohen sind), Bergbau, Landwirtschaft und Forst-
verwaltung, Gefängniswesen, die Sorge für die Arbeitslosen und die Be-
handlung der die zugewiesene Arbeit Weigernden (Anweisung des Aufent-
haltsortes mit eventueller Entfernung aus dem Lande), die öffentliche Ge-
sundheitspflege, Seelsorge und Unterricht (man denke an die Universi-
täten in Warschau und Gent), die Wahrung der Rechte von nationalen
Minderheiten (die Flamen in Belgien) — kurz alle Gebiete staatlicher
Verwaltungstätigkeit werden bei lange dauernder Besetzung im Inter-
esse des besetzten Gebietes selbst von dem besetzenden Staat ergriffen
werden müssen. Und es ist klar, daß das nicht ohne Meinungsver-
schiedenheiten und Reibungen, ohne Fehlgriffe der Verwaltung und
Mißverständnisse der Verwalteten abgehen kann, auch wenn auf allen
Seiten der beste Wille zur Beachtung des Völkerrechts vorhanden ist.
Der besetzende Staat hat aber nicht nur für die Interessen der be-
setzten Gebiete zu sorgen. Er hat auch, und das wird für ihn
an erster Stelle stehen, die besetzenden Truppen und die
Zwecke der Kriegführung zusichern. In dieser Richtung reicht
dem besetzten Gebiet und dessen Bewohnern gegenüber seine Gewalt
so weit, als sie nicht durch die Bestimmungen der „Ordnung“ einge-
schränkt wird (vgl. darüber unten 2 bis 5). Innerhalb dieser Schranken
werden die Interessen der Kriegführung den Interessen der Bewohner
des besetzten Gebietes vorgehen (Beschränkung der Preßfreiheit, des
Hausrechts Verkündung des Standrechts, Evakuierung der Landes-
bevölkerung usw.), wie ja auch in der Heimat der Kriegszustand weit-
gehende Beschränkungen der persönlichen Freiheit mit sich bringt.
2. Die Bewohner des besetzten Gebietes behalten ihre bisherige Staate-
angehörigkelt, sie treten aber unter die Befehls- und Zwangsgewalt des be-
setzenden Staates.
Sic schulden diesem Gehorsam, nicht aber die Treue, die der
Untertanenverband fordert. Es ist daher völkerrechtswidrig, von der
Bevölkerung des besetzten Gebietes den Treueid zu verlangen oder !®)
sie zu zwingen, Auskünfte über das Heer des Gegners oder über dessen
Verteidigungsmittel zu geben (vgl. Art.42 bis 45), oder sie zur Teil-
nahme an den Kriegsunternehmungen gegen ihr eigenes Land, etwa zu
Führerdiensten in unbekanntem Gelände, zu zwingen.
16) Gegen diese Bestimmung hat das Deutsche Reich einen Vorbehalt
gemacht.