Full text: Geschichte des Elsasses von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart.

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die Originale großentheils verloren oder zerstreut und das Leben 
ein völlig anderes geworden wäre: würde nicht für jene späteren 
Zeiten eine solche Sammlung als Urkunde unserer Gegenwart ganz 
unschätzbaren Werth gewinnen? Etwas ähnliches leistet uns Herrads 
Arbeit für das zwölfte Jahrhundert. 
Die Illustrationen umfassen so ziemlich alle Gegenstände, welche 
für die mittelalterliche Kunst überhaupt als darstellenswerth in Be- 
tracht kamen. Neben dem gesammten Inhalt der Bibel mehreres 
aus der Mythologie der Alten, eine Anzahl von Allegorien und um- 
fangreiche phantastische Compositionen, wie die Kirche, das jüngste 
Gericht, Apokalyptisches, Kampf der Tugenden mit den Lastern, Hölle, 
Paradies u. s. w. Und diese Gegenstände hat Herrad theils byzan- 
tinischen Mustern nachgebildet, die ihrerseits meist auf altchristliche 
zurückgehen; theils hat sie Neuschöpfungen nach selbständiger Beob- 
achtung der Natur versucht. Dort ist sie stilvoll, hier oft roh natu- 
ralistisch. Dort finden wir antike Auffassung, mitunter vom feinsten 
Gefühl, hier zum Theil ungeschlachte Erfindungen, welche an die 
ersten Zeichenversuche der Kinder erinnern. Dort begegnen uns nach 
der Weise der classischen Kunst Personisicationen von Naturgegen- 
ständen, der Jordan als Flußgett bei der Taufe Christi, Aeolus 
und Neptun für Luft und Wasser bei der Schöpfungsgeschichte 
u. s. w. Hier gänzlich gescheiterte Wagnisse auf dem Gebiete der 
Landschaftsmalerei, vollkommen mislungene Bäume, Gesträuche u. 
dergl. Dort die Ruhe und Mäßigung der idealistischen Kunst, hier 
die Anfänge eines Realismus, der auf drastisch bewegte Scenen 
aus ist. Dort ein traditionelles, hier ein individuelles Element. 
Dort gibt uns die Aebtissin Auskunft über alte angesehene Kunst- 
werke, die durch vielfältige Nachbildung sich fertpflanzten und für 
uns verloren sind. Hier entrollt sic ein mannigfaltiges Bild des 
Lebens ihrer Zeit, wie sie es mit ihren eigenen Augen geschaut. 
Ihre Intentionen sind immer bedeutend, aber ihre Mittel erscheinen oft 
so unvollkommen, daß wir Beispiele jener Hieroglyphen ver uns zu 
haben glauben, die zwischen Malerei und Schrift mitten inne schweben.
	        
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