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ersten Sporen in Deutschland. Jene armen Leute waren todt, andere
wuchsen nach, die Ketzerei war unausrottbar. Bald tauchen sie als
„Ortlieber“, bald als Brüder und Schwestern des freien Geistes
auf, bald legt man ihnen den Namen der Begharden und Beginen
bei und bringt dadurch vorübergehend auch Verfolgung über die
unschuldigen Beginen, die wir kennen. Jahrhunderte lang trieben
sie in Straßburg ihr Wesen. Denn was auch die Bischöfe und
Dominicaner unternehmen mochten, der Stadtrath — dem bei
Zwistigkeiten mit dem Bischof die widerkirchlichen Elemente oft ganz
willkommen waren — lieh nur ungern den weltlichen Arm dazu her.
Sie gingen in langen Röcken, welche vom Gürtel an. vorne
herab aufgeschnitten waren, den Kopf bedeckten sie mit kleinen Ka-
puzen, die Weiber verhüllten ihn mit übergeschlagenem Mantel.
So zogen sie durch die Straßen und erbettelten „Brot um Gottes-
willen!" Die freiwillige Armuth enwarb ihnen allgemeine Sympathie.
Sie verbreiteten ihre Ansichten durch Lieder, Predigten und populäre
Schriften. Diese Ansichten waren radical genug. Sie läugneten
die Gottheit Christi, erklärten die Kirche für überflüssig, bezeichneten
den Papst als das Haupt alles Uebels, verwarfen die Sacramente
und kirchlichen Ceremonien. Gott war ihnen mit der Welt identisch
und aus dem pantheistischen Grundgedanken zogen sie die aus-
schweifendsten sittlichen Folgerungen. Im vierzehnten Jahrhundert
haben sie sich entschieden Lehren Meister Eckards angeeignet, denen
sie eine bedenkliche Wendung in ihrem Sinne zu geben wußten.
Abgesehen von pantheistischen Anklängen schloß Eckards Grund-
princip einen oppositionellen Keim in sich, der sich unter günstigen
Umständen zu dem protestantischen Gedanken des allgemeinen Priester-
thums entwickeln konnte. Eckard setzt den Menschen in ein unmittel-
bares Verhältnis zu Gott, worin man nicht ersieht, was ihm Kirche,
Priester, Sacramente, gute Werke weiter nützen sollen. Wer mit
Gott innerlich vereinigt ist, was bedarf der noch zur Seligkeit?
Eckard erzählt einmal von einem seiner Beichtkinder, einer
Schwester Katrei aus Straßburg, vielleicht einer frommen Begine,