Full text: Ludendorff, meine Kriegserinnerungen 1914-1918

Der Übergang über den Njemen 123 
die Eisenbahnbrücke fertig war. Ihre Wiederinbetriebnahme war eine 
Lebensfrage für die Armee bei dem erhofften Fortschreiten der Operation. 
Die Stadt Kowno selbst war bis auf die Fabrikanlagen erhalten. 
Diese waren niedergebrannt, die Bevölkerung geflohen. Ich sah hier, in 
welch schwierige Lage die Truppen kamen, wenn sie sich ohne Mitwirkung 
der Bewohner unterbringen mußten. 
General v. Eichhorn schob unverzüglich nach der Einnahme Kownos 
General Litzmann mit seinen Angriffstruppen an der Eisenbahn nach 
Wilna vor und zog die zunächststehenden Truppen über den eroberten 
Njemenübergang nach. Eleichzeitig setzte er die übrigen Teile der 
10. Armee, das XX I. A. K., General v. Hutier, mit dem Hauptdruck auf 
Olita und schwächere Truppen durch den Augustower Wald auf Grodno 
an; sie handelten in engster Fühlung mit der bereits beinahe in gleicher 
Höhe dorthin vorgehenden 8. Armee. 
General v Eichhorn beabsichtigte, den Njemenübergang auf der ganzen 
Linie zu erzwingen, um so im Rahmen der von uns gedachten Operation 
zu wirken. Die Maßnahmen entsprachen durchaus unseren Ansichten. 
Blieb auf der einen Seite und namentlich da, wo die Armeen zusammen- 
stießen, viel anzuordnen übrig, so wurde nach der anderen Richtung 
hin durch selbständige Entschließungen der Armeen der ganze Geschäfts- 
gang erleichtert. Es war nur ihre Aufgabe, rechtzeitig mitzuteilen, wie 
sie die Lage auffaßten und was sie wollten. Die Armeegrenzen sind 
immer besondere Reibungspunkte. Im ÖOsten, namentlich im Stellungs- 
kriege, trat es nicht so in Erscheinung wie später im Westen. Die Abschnitts- 
grenzen wurden dort bisweilen zu hohen Zäunen, an denen man nur 
entlang, aber über die man nicht hinüber sah. Es war eine wichtige Auf- 
gabe der höheren Führung, hier auszugleichen und die Abschnittsgrenzen 
nicht zu taktisch schwachen Punkten werden zu lassen. 
Das Vorrücken der Mitte und des rechten Flügels der 10. Armee 
fand unter heftigen Kämpfen statt. Unter dem Druck der Ereignisse bei 
Kowno räumte der Russe nach gründlicher Zerstörung der Eisenbahnen 
und der Njemenbrücken zunächst das linke Ufer dieses Stromes und wich 
bald darauf auch weiter auf Orany aus. Das XX I. A. K. nahm bereits am 
26. August Olita. Ende August hatte die 10. Armee den Njemen über- 
schritten und war in langsamem Vorgehen gegen die Bahn Grodno— 
Wilna. Noch bevor sie die Bahn erreichte, stieß sie auf sehr heftigen 
Widerstand, der zunächst nicht zu brechen war. Der Russe fing an, aus 
dem östlichen Polen Kräfte nach Norden zu verschieben. 
Die taktische Einwirkung des Vorgehens der 10. Armee über den 
Njemen in Richtung Grodno war wegen des ungeheuren Waldgebietes 
im Nordosten dieser Festung gering. Der Russe war aber doch empfindlich
	        
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