— 64 —
Unruhige waren, welche in Schranken gehalten und nötigenfalls durch
Strafen von der Wiederholung ihrer Ruhestörungen und Missetaten
abgeschreckt werden muftten: so ist leicht einzusehen, daß es fester
Gesetze bedurfte, durch welche Handel und Wandel geregelt und
jedem das Maß seiner Freiheit zugewiesen wurde, damit er die
andern nicht in ihren Ansprüchen auf die gleiche Freiheit beein-
trächtigte. Und nicht nur mußte bestimmt werden, was als Recht
gelten sollte, sondern auch, wer es zu verwalten und darüber zu
wachen habe, daft es nicht übertreten würde.
Schon das Zusammenleben nomadischer Hirtenstämme ist un-
denkbar ohne gewisse rechtliche Bestimmungen und ohne die Unter-
ordnung der Menge unter ein gemeinsames Oberhaupt. Wie viel
weniger läßt sich eine aus so vielen und so verschiedenartigen.
Gliedern zusammengesetzte Gemeinschaft denken, wie diejenige, in
der wir leben, ohne daft noch eine weit genauere Bestimmung dafür
getroffen ist, daß jedem das Seine werde: dem Käufer und dem
Verkäufer, dem Gläubiger und dem Schuldner, dem Herrn wie dem
Diener, dem Untertanen wie dem Fürsten etc. Ein solch streng ge-
ordnetes, wohlgegliedertes Ganze aber, worin jedem seine Rechte und
Pflichten angewiesen sind und für die Vollziehung beider gesorgt
wird, ist der Staat.
Mit diesem Worte haben wir die vollkommenste Form des ge-
Ssellschaftlichen Zusammenlebens bezeichnet. Wie der Ackerbau die
Grundlage für alle höhere Gesittung, so ist der Staat die vollendetste
Ausbildung derselben; alle Güter des Kulturlebens finden in seinem
Schoße ihren Schutz und ihre Pflege.
Was sollte aus uns werden, wenn plötzlich alles das aufhörte,
was wir jetzt an staatlicher Fürsorge genießen; wenn sich autzer
unsern nächsten Angehörigen niemand mehr um uns bekümmerte;
wenn wir Haus und Hof, Handel und Wandel und selbst unser
Leben und Sterben dem blofsen guten Willen der Menschen anheim-
stellen müßten; wenn jeder sich selbst zu schützen hätte und uns
keine Obrigkeit bewachte! Wie schnell wären alle die Güter ver-
nichtet, deren wir uns jetzt erfreuen, wie rasch würden wir in jenen
Zustand zurücksinken, wo jeder allein für sich sorgt und nur das
Recht des Stärkeren gilt! Was würde aus allen den gemeinnützigen
Einrichtungen werden, die jetzt unser Leben fördern und uns Sicher-
heit oder doch, wenn das Unglück einmal nicht zu verbüten ist,
Hilfe bieten, und zwar nicht nur gegen die Eingriffe der Menschen,
wie Diebstahl, Mord etc., sondern auch gegen feindliche Natur-
gewalten, wie Feuers-, Wassers- und Hungersnot, verheerende Krank-
heiten etc. Es würde sich das Wort Schillers erfüllen:
„Nichts Heiliges ist mehr; es lösen
Sich alle Bande frommer Scheu;
Der Gute räumt den Platz dem Bösen
Und alle Laster walten frei.“