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lehr, dem Warenaustausch und der Berührung der
Menschen untereinander zugute gekommen. Mit-
teilungen werden ausgetauscht in ebensoviel Stun-
den, wie früher Monate erforderlich waren; Personen-
und Güterbeförderung braucht nicht mehr Tage als
ehedem Wochen.
Die Mittel der Technik haben auch Hebung und
Verwertung der Bodenschätze ganz außerordentlich
gesteigert. Kohle und Eisen, die notwendigsten Er-
fordernisse stärkerer industrieller Betätigung, werden
dem Boden in Mengen entnommen, die vor hundert
Jahren ganz unerhört waren. Erdöl ist fast ganz
neu hinzugekommen. Die Goldproduktion ist auf über
zwei Milliarden Mark jährlich gestiegen und in fort-
esetzten raschen Wachsen begriffen. Vor zwei Men-
chenaltern, als weder die Goldfelder von Kalifornien
und Australien noch die von Südafrika und Klon-
dike bekannt waren und die Technik der Förderung
weit hinter der gegenwärtigen zurückstand, betrug sie
ungefähr den zwanzigsten Teil. Wie dadurch das
ganze Geldwesen vereinfacht und gesichert, das mo-
derne Kreditsystem erst ermöglicht wurde, ist allgemein
bekannt. Die Reihe derartiger ungeahnter, einschnei-
dender Entwicklungen kann jeder leicht verlängern,
der seine Gedanken nur einigermaßen in diese Kich
tung lenkt. Die internationalen Verkehrsziffern zeig-
ten insbesondere in den letzten Jahrzehnten eine ge-
radezu unglaubliche Steigerung und bewegen sich
fortgesetzt rasch aufwärts.
Diese tausendfach verschlungene Verkettung der per-
sönlichen und sachlichen Beziehungen hat zusammen
mit dem Zauber, den naturgemäß Schlagworte wie
Kultur, Humanität, Gesellschaft ausüben, der Vor-
stellung, als sei ein einheitliches, durch die Grund-
bedingungen seines Gedeihens unlösbar aneinander-
geknüpftes Menschentum vorhanden, viel weitere Ver-
breitung verschafft, als nach Lage der Dinge berechtigt
war. Es hat zwar nicht zu allen Zeiten, wohl aber seit
dem Emporblühen der griechischen, römischen und ins-
besondere der christlichen Kultur über das nationale
Leben hinaus kosmopolitische Strömungen gegeben.
Die religiösen Bewegungen der letzten Jahrtausende
haben fast durchweg diesen Charakter getragen; sie
waren aber auch auf anderen Lebensgebieten, sowohl
in der geistigen Betätigung wie in der Form des
äußeren Gebarens, reichlich vertreten. In der jüng-
sten Vergangenheit hat der Kosmopolitismus doch
besonders zahlreiche und einflußreiche Bekenner ge-
funden, nicht zuletzt auch in unserem Volke. Wenn
man um die Welt reisen und Tag für Tag und Nacht
für Nacht in derselben Weise essen und trinken, schla-
fen und sich kleiden kann, ohne sich um Sondersitten
und Sonderbräuche anders als zur Befriedigung der
Schaulust zu kümmern, so kann man wohl von der
Einheitlichkeit der -gebildetene, der kultiviertene
Menschheit träumen. Sah und fühlte man doch auf
Schritt und Tritt, mit wie vielen Fäden das Gedeihen
jedes einzelnen Volkes an dem des anderen hing!
Und doch konnte auch dem weniger Aufmerksamen
nicht entgehen, wie daneben eine genau entgegen-
gesetzte Umgestallung sich vollzog und kaum minder
rasch als die völkerverschmelzende Bewegung Boden
gewann. Unsere Staaten sind durch Jahrhunderte
und Jahrtausende vor allem Gebilde ihrer Herrscher
und der Herrscherfamilien gewesen; auch in der Aus-
estaltung unserer abendländischen Staatenwelt haben
fioer die treibende Kraft dargestellt. Selbst der natio-
nale Staat, der mit dem ausgehenden Mittelalter sich
I. Politik und Geschichte
durchzuringen beginnt, hat lange noch unter ihrer
Leitung gestanden und deren bedurft. In Deutsch-
land und Italien hat bis in die neueste Zeit hinein
das Regentenhaus den Staat bedeutet. Das ist seit
der französischen Revolution und der Unterjochung
der Völker Europas durch den korsischen Emporkömm-
ling fast überall anders geworden. Mit dem Konsti-
tutionalismus ist der Nationalismus Grundlage und
Ausgangspunkt politischer überzeugungen geworden,
jener für die innere Gestaltung der Staaten, dieser
für ihre äußere Abgrenzung. Es gibt nicht allzu viele
Völker, die nicht Anspruch zu haben glauben auf einen
nationalen Staat, auch wenn sich sofber Anspruch ge-
schichtlich in keiner Weise begründen läßt, und seine
Befriedigung auf fast unüberwindliche Schwierig-
keiten stößt, ohne schwere Kränkung anderer, wohl-
begründeter Rechte nicht durchzusetzen ist. Auf dem
Gebiet der Politik, des Verhältnisses der Staaten und
Völker zueinander, hat im Jahrhundert der innigsten
wirtschaftlichen Menschheitsverschmelzung, die es je
gab, vor allen anderen Stimmen laut der sondernde,
die Völker scheidende Nationalismus das Wort.
II. Die Aufteilung der Grde.
Die Schätze dieser Welt haben sich gemehrt und
werden sich weiter in gleichem, ja größerem Maßstabe
mehren. Unsere älteren Leute mögen den Atlas in
die Hand nehmen, aus dem sie oder auch ihre Väter
Geographie lernten, und mögen sich ins Gedächtnis
zurückrufen, was sie dort im Innern Afrikas, Asiens,
Südamerikas und selbst Nordamerikas fanden: aus-
gedehnte weiße Flächen, tastende Gebirgs- und Fluß-
einzeichnungen. Sind es doch selbst für die Vereinig-
ten Staaten von Nordamerika eben erst hundert Jahre
her, daß sie zum ersten Male vom Atlantischen bis
zum Stillen Ozean durchquert wurden, für Afrika,
ebenfalls in ostwestlicher Richtung, noch nicht einmal
vier Jahrzehnte. Jetzt gibt es im Innern dieser Erd-
teile kein Gebiet von der Größe eines preußischen Re-
gierungsbezirks mehr, das nicht von Weißen betreten
worden wäre. Nord- und Südpol wurden erreicht.
Die Erdoberfläche liegt offen vor den Blicken der Men-
schen; sie hat nicht viel mehr zu enthüllen. über-
raschungen, wie etwa die Entdeckung der Nilquellen
sie bereitete, sind ausgeschlossen.
Die Unternehmungen, die zu diesen Ergebnissen
führten, wurden zunächst aus dem Forschergeist ge-
boren, der dem Zeitalter der Aufklärung in noch rei-
cherer Fülle und nachhaltigerer Kraft entsprossen ist
als dem vielbewegten der Renaissance. Man wollte
die Erdoberfläche kennenlernen, auf der man lebte. So
haben zahlreiche Reisende, und zwar nahezu ausschließ-
lich Europäer, die auszogen, Feande Lande zu erkun-
den (kaum irgendwelche Amerikaner!), ihre Namen
der Entdeckungsgeschichte aller Erdteile unvergänglich
eingefügt, darunter nicht an letzter Stelle Deutsche.
Insbesondere stehen in der Aufdeckung Afrikas und
Arustraliens die deutschen Leistungen denen keiner an-
dern Nation nach. Es konnte aber nicht ausbleiben,
daß sich dem Forschertrieb bald der des Gewinnens und
Beherrschens zugesellte, der im sogenannten Zeitalter
der Entdeckungen so sehr überwogen hatte. Insbeson-
dere war das bei den schon früher kolonisierenden Völ-
kern der Fall, die aus vergangener Zeit her schon an-
sehnlichen auswärtigen Besitz in Händen hielten und
naturgemäß den gew ohmen estrebungen weiter nach-
gingen, bei keinem mehr als bei dem englischen. Hatte
doch Großbritannien nach den Napoleonischen Krie-