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Allgemeines Wahlrecht.
7,u den incongruentesten staatlichen Einrichtungen unserer Gegenwart
gehört offenbar das allgemeine, directe und geheime Wahlrecht, wie solches
plötzlich nach Deutschland hereingeschleudert worden ist, und zwar gerade
in Beziehung auf die dem Verständnisse der Menge am entferntesten liegen-
den Organe des Öffentlichen Lebens, den Reichstag und das Zollparlament.
Dieses unmittelbare Hereinziehen der Masse der deutschen Bevölkerung in
die höchsten Staatsangelegenheiten ist etwas so durchaus Neues, widerspricht
so sehr in seinen Grundgedanken allen unseren sonstigen politischen Insti-
tutionen, geht so weit ab von der einzig richtigen Ordnung eines Wahl-
systemes, nämlich der Auffassung der Betheiligung an dem activen Wahl-
rechte als eines den dazu Befähigten zu ertheilenden Auftrages, muss noth-
wendigerweise 80 grosse weitere Folgen haben, dass man sich des Aussersten
Staunens über die Kühnheit aber auch über die Unbedächtsamkeit eines
solchen Unternehmens nicht erwehren kann’).
Allerdings bat es schon längst in Demokratien allgemeines Wahlrecht
gegeben, so in der Schweiz und in den Vereinigten Staaten; allein hier
verhält sich die Sache ihrem ganzen Wesen nach anders. In der Demokratie
ist die Gesammtheit der Bürger der rechtliche Inhaber der Staatsgewalt:
ihr steht mittelbar oder unmittelbar die schliessliche Entscheidung in allen
ı) In Bd. II., 8. 292 fg. des gegenwärtigen Werkes ist von den allgemeinen Ab-
stimmungen die Rede gewesen. Diese Art der Entscheidung über eine staatliche Frage
bat mit dem allgemeinen Wahlrechte allerdings In so ferne Aehnlichkeit, als allenfalla
der Wille der ganzen Masse der Bevölkerung befragt wird; doch ist tbeils darin ein wich-
tiger Unterschied, dass die Abstimmung über eine Verfassungsänderung oder Staatsgründung
auf dem Godanken der Errichtung des Stantea durch einen Vertrag Aller mit Allen be-
ruht, aber koineswegs eine fortdauernde Beeinflussuug der Staatsangrlegenhelten durch die
Gesammtheit der Bärger in sich begreift oder zur notbwendigen Folge hat, theils sind die
praktischen Folgen der beiden Arten von Maasıregein nicht die gleichen. Dio allgemeine
Abstimmung Ist eine ausserordentliche Anordnung, welche sich gar nicht zu wiederholen
braucht, das allgemeine Wahlrecht dagegen soll eine dauerndo organische Einrichtung sein.
Bchbon die vor unseren Augen vor sich gegangenen Thatsachen beweisen, dass die eine Be-
fragung der Menge ganz wohl ohne die andere bestehen kann. Sie sind daher auch abge-
sondert zu betrachten und zu wfrdigen.