81. Einleitung. 5
politische Strömungen, von denen das innere Staatsleben augenblicklich be-
herrscht ist, gehemmt wird oder internationale Prätensionen einzelner Nationen
den ungestörten Fortgang der natürlichen Entwicklung des Verkehrs selb-
ständiger Staaten gefährden oder stören — derlei Erscheinungen des Völker-
lebens sind doch nur vorübergehend; in der Regel lassen sie den Wert einer
stabilen Ordnung der internationalen Verhältnisse und die Notwendigkeit auf-
richtigen Eintretens für die Herrschaft des Rechts und der Humanität, nament-
lich in Streitfällen, recht deutlich erkennen. In der Tat sind die größten
Fortschritte der humanen Ausgestaltung des internationalen Lebens an die
großen Umgestaltungen der Verhältnisse jener Staaten geknüpft, die sowohl
in ihrer nationalen Rechtsordnung wie im Völkerverkehr zur Verwirklichung
der Rechtsidee in der Geschichte der Menschheit vornehmlich berufen sind.
Auch die aktuellen Verhältnisse des gegenwärtigen Zeitalters lassen den Zu-
sammenhang der Interessen des nationalen Lebens und sohin der nationalen
Rechtsordnung mit der Tatsache der Koexistenz der Staaten deutlich erkennen.
Im Bereich der Koexistenz von Staaten gleicher Zivilisation treten Interessen
in den Vordergrund, die auf den ersten Blick sich als ausschließlich nationale
Interessen darstellen und deren Pflege auch in der Tat bislang ausschließlich der
nationalen Rechts- und Wohlfahrtspflege vorbehalten war, bezüglich welcher aber
Aufgaben an den Staat herantreten, die nur. in Verbindung mit anderen Staaten
eine erschöpfende Lösung finden können. Die Ursache dieser Erscheinung
liegt darin, dab betreffende Interessen infolge der engen Berührung der Staaten
und stetig zunehmenden Wechselbeziehung auf allen wichtigen Lebens-
gebieten sich zu solidarischen Interessen der Völker ausgestaltet haben,
deren isolierte Regelung nur unvollständig innerhalb der einzelnen nationalen
Rechtsordnungen erfolgen kann. !) So unterliegt es heute wohl kaum mehr
einem Zweifel, daß z. B. die Arbeiterfrage zu einer eminent internationalen
Frage geworden ist, deren Lösung vom engherzig nationalen Standpunkt ver-
geblich versucht wird. Bei dieser Frage weist übrigens schon deren Geschichte
in der Neuzeit, insbesondere die internationale Gestaltung der Aktion der
Arbeiter auf das in letzter Reihe einzig maßgebende Mittel internationaler
Vereinbarung der solidarisch interessierten Staaten hin. Ähnliches gilt von
1) Nippold, Die Fortbildung des Verfahrens in völkerrechtlichen Streitigkeiten (1907)
behandelt sein Thema auf Grund einer eingehenden Erörterung der Grundlagen des neuen
Völkerrechts (8. 35 ff... Der Schwerpunkt der staatlichen Interessen auf internationalem Gebiet
ist heute ein anderer geworden; es hat sich eıne Verschiebung der Sonderinteressen
zugunsten der gemeinsamen Interessen, die der gegenseitige Verkehr mit sich bringt, er-
geben. „Dieses stärkere Hervortreten des Moments der Gemeinsamkeit, der Solidarität, ist
nun aber nicht nur ein Merkmal der neueren Entwicklung in den internationalen Beziehungen,
sondern es hat auch seinen Einfluß auf das Wesen des Völkerrechts ausgeübt. Auch das
internationale Recht hat Anteil bekommen an der stattgehabten Verschiebung des Schwer-
gewichts der menschlichen und staatlichen Interessen, insofern, als es dadurch innerlich ge-
festigt worden ist. Seine eigentliche Natur ist dadurch erst recht zum Vorschein ge-
kommen, so daß man die Grundlagen, auf denen alles internationale Recht so recht eigentlich
beruht, nunmehr klarer erkennen kann.“ 8.40: „Das moderne Völkerrecht beruht also...
wesentlich auf der Solidarität der heutigen internationalen Interessen.“ Vgl. auch Schlief,
Der Friede in Europa 78ff.