124 Zweites Buch. Die Subjekte des Völkerrechts. 8 30.
Nach dieser Theorie verstand man unter rechtmäßiger oder legitimer Ent-
stehung, daß entweder der Staat von Anfang an sich aus sog. freien Ele-
menten gebildet haben müsse, d. h. aus Territorien und Individuen, die noch
keiner Staatsgewalt unterworfen waren, oder daß nachher die frühere Unter-
würfigkeit in rechtmäßiger Weise aufgelöst worden ist. Allein die Ent-
stehungsart eines Staates ist für seine völkerrechtliche Rechtsfähigkeit ebenso
gleichgiltig wie für die Rechtsfähigkeit des Individuums dessen legitime oder
illegitime Geburt.
Ill. Der Gedanke der legitimen Entstehung eines Staates (im
Gegensatze zur Eroberung und Revolution) spielte übrigens auch im
praktischen Staatsleben der Neuzeit eine Rolle. Die Bildung von neuen
Staaten auf den Trümmern der Staaten des alten Europa durch Napoleon I.
und die in dem Unabhängigkeitsverhältnisse dieser neuen Staaten zu ihrem
Gründer zum Ausdruck kommenden Aspirationen der Weltherrschaft riefen
den Widerspruch der alten Mächte hervor, denen die Neugestaltung Europas
als eine Gefahr für die freie Koexistenz selbständiger Staaten und die Geltung
des Völkerrechts überhaupt erschienen war. Dieser Widerspruch kam auf
dem Wiener Kongreß in dem von Talleyrand) formulierten Legitimitäts-
prinzip zum Ausdruck 2), ohne daß jedoch der Kongreß selbst die von Tal-
leyrand gewünschte Garantie der von ihm formulierten Grundsätze über-
nommen hätte. Nach diesen Grundsätzen sollte insbesondere die debellatio
an sich keinen Titel der Erwerbung eines nicht ererbten Landes bilden,
sondern die Erwerbung durch debellatio einer nachträglichen Sanierung durch
Zession seitens des depossedierten Fürsten bedürfen. Unter dem Einfluß des
Legitimitätsprinzips sollte eine Wiederherstellung der alten staatlichen Ord-
nung in Europa herbeigeführt werden. Vertragsmäßige Anerkennung fanden
diese Gedanken in der „Heiligen Allianz“ 3); auf den Kongressen zu Aachen,
Laibach und Verona kamen sie zu weiterer Entwicklung, insofern es sich
nach Niederwerfung der Napoleonischen Herrschaft um Verwertung des Legi-
timitätsprinzips gegen die freiheitliche Umgestaltung des Verfassungsrechts
der ein.elnen Staaten handelte. ‘)
$ 30. Anerkennung neuer Staaten.) I. Die originäre Bildung
eines neuen Staates, die Entstehung eines neuen Staatswesens infolge
1) Note Talleyrand’s an Metternich ddo. Wien 19. Dezember 1814 (bei Klüber,
Akten des Wiener Kongresses VII S. 49).
2) Hauptwerk über das Legitimitätsprinzip: Brockhaus, Das Legitimiätsprinzip. Eine
staatsrechtliche Abbandlung (Leipzig 1566). Neucstens Jellinek, Staatslehre 254ff., wo die
Unhaltbarkeit des Legitimitätsprinzips nachgewiesen ist.
3) Trait& dit de Sainte-Alliance, signe entre LL. MM. l’emperceur de Russie, l’empereur
d’Autriche et le roi de Prusse & Paris lo 14/26 sept. 1815 (Martens, Recueil manuel lIL
p. 202; bei Fleischmann 19.) Der maßgebende Einfluß auf das Zustandekonmen dieser Al-
lianz und deren theokratisierenden Charakter ist auf Kaiser Alexander I. zurückzuführen.
4) Vgl. Brockhaus a. a. 0.S. 78ff.
5) Heffter-Geffken 855; v. Holtzendorff, HH 11 8. 23ff.; Gareis $ 16; Hart-
mann 8.29/f.; F. v. Martens 18. 2$Soff.; Rivier, Lehrbuch S. 87ff., v. Liszt 85, IV;
Phillimore, Commentaries II p. 15sq.; Despagnet, Cours p. $87eq.; Jellinek, System der