132 Zweites Buch. Die Subjekte des Völkerrechts. 8 32.
übernommen und ausgeübt wird. Überhaupt tritt der annektierende Staat in
vollem Umfange in die Stellung des Fiskus des annektierten Staates ein.
Verbleibt dem annektierten Staate ein gewisses Mab von Autonomie und in-
folgedessen auch die Verfügung über das Staatsvermögen, so kann der annek-
tierende Staat. zur Übernahme betreffender Schulden nicht verpflichtet er-
scheinen.!) — Meinungsverschiedenheit besteht bezüglich der Handels- und Schiff-
fahrtsverträge, Auslieferungsverträge usw. Nach der einen Ansicht erlöschen
diese Verträge in gleicher Weise wie Bündnisse und Freundschaftsverträge 2);
nach der andern Ansicht bleiben „alle Handelsverträge und Pakte des Ante-
zessors für den inkorporierenden Staat in Kraft“); eine dritte Ansicht hält
eine allgemeine prinzipielle Antwort auf diese Frage für ausgeschlossen und
läßt die Natur und die Tragweite des Vertrages und die konkreten Umstände
entscheiden. +) Infolge der Annexion Hannovers (1866) verloren die von diesem
Staate geschlossenen Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsverträge, die
Verträge wegen Auslieferung von Verbrechern, die Verträge betreffend den
Schutz des geistigen Eigentums ihre Anwendbarkeit. Indessen dürften nicht
alle derlei Verträge gleichmäßig zu beliandeln sein; daß Verträge politischer
Natur mit dem Erlöschen des annektierten Staates als Völkerrechtssubjekt
ipso facto erlöschen, ist schon bemerkt worden: anderseits wurde aber oben
betont, daß der annektierende Staat zunächst in die Rechtsordnung des annek-
tierten Staates eintritt. Vom Zeitpunkte der Übernahme der Herrschaft darf
er allerdings die vorgefundene Gesetzgebung und Verwaltung seinen Inter-
essen entsprechend umgestalten. Gegenüber den Verträgen, welche der annek-
tierte Staat abgeschlossen hatte, wird er im Hinblick auf seine eigenen Inter-
essen zu enscheiden haben, ob er die vorhandenen Vertragsverhältnisse de-
finitiv fortbestehen lassen oder deren Änderung bezw. Aufhebung herbeiführen
soll.5) Durch die Annexion ist eine Sachlage geschaffen, welche einerseits
1) Im Falle des Anschlusses eines bisher souveränen Staates an einen Bundesstaat
ergeben sich möglicherweise Modifikationen des allgemeinen Grundsatzes betreffend die
Übernahme von Staatsschulden. Ein Beispiel hierfür bietet der Eintritt des Staates Texas
in den Verband der nordamerikanischen Union (1845). Behält der Staat seine Finanzhoheit
und sein Vermögen, dann besteht für den annektierenden Staat keine Pflicht zur Übernahme
der Staatsschulden. Dies war ursprünglich auch bezüglich Texas der Fall. Erst als das für
die Schulden des Staates Texas haftende Staatsvermögen der Union überlassen worden war,
entstand für diese die Verpflichtung zur Verzinsung jener Schulden u. s. w. — Siehe Näheres
über diese Angelegenheit bei Lawrence zu Wheaton, Elements I p. 211 sq.; Calvo
1$ 101.
2) Siche neuestens Rivier, Principes I p. 72sq.; s. auch Lehrb. $ 7; vergl. auch
Hartmann 8. 35 ff; Despagnet, Cours p. 99.
3) F. v. Martens 1 S. 278 ff.
4) So Calvo 1 $ 100: „en cette matiere tout depend des circonstances, de la nature
et de la portee des traites autant que du caractere et de la signification v6Eritable et ICgitime
des transformations politiques qui motivent le doute.“ Vgl. auch Bluntschli, Völkerrecht
8 50 Abs. 2. Dagegen F. v. Martens I S. 278: man dürfe nicht sagen, die Sukzession greife
Platz, „insoweit die Fortdauer dieser Rechte und Pflichten möglich ist* (Bluntschli), d
diese Einschränkung doch gar zu elastisch ist.
5) Mit Recht macht Gareis $ 16 darauf aufmerksam, daß die unverändert fort-
bestehenden Nachbarstaaten, welche im alten Verhältnis berechtigt oder verpflichtet: waren,