146 Zweites Buch. Die Subjekte des Völkerrechts. 8 3S.
legende Norm zum Schutze der sich als Rechtssubjekte und Rechtsgenossen
gegenseitig anerkennenden einzelnen Mitglieder der Gemeinschaft. Dem durch
das gleichberechtigte Nebeneinanderbestehen der Mitglieder dieser Gemein-
schaft gegebenen primären und konstanten Lebensverhältnis entspricht inner-
halb der völkerrechtlichen Ordnung durch Vermittlung jener grundlegenden
Norm ein primäres, allgemeines Rechtsverhältnis, in welchem jedes Mitglied
sich als verpflichtet anerkennt, die anderen nicht zu verletzen, jedem einzelnen
Mitgliede aber auch der Anspruch zuerkannt ist, von jedem anderen die Unter-
lassung jeder Verletzung zu fordern. Jede Verletzung eines Mitgliedes ist
rechtswidrig, weil Übertretung jener grundlegenden, jede Verletzung der
Person verbietenden Norm.!) Weil diese Norm notwendig alle Interessen
umfaßt, kann die Konstruktion einzelner, abgeleiteter und als Grundrechte
bezeichneter subjektiver Rechte als überflüssig abgelehnt werden, denn keines
dieser einzelnen Rechte würde einen spezifischen Inhalt aufweisen. ?)
Die gegenseitige Anerkennung der Staaten als Rechtssubjekte und das
primäre Verbot der Verletzung der völkerrechtlichen Persönlichkeit sichern
jedem einzelnen Mitgliede der internationalen Gemeinschaft die Freiheit der
Betätigung seines Willens in den durch den Staatenverkehr sich ergebenden
Lebensverhältnissen. Jede Betätigung der Freiheit des einzelnen Staates im
Völkerverkehr ist dem Völkerrechte gemäß, wenn betreffende Handlungen
nicht eine Verletzung eines anderen Staates enthalten. Daraus ergibt sich,
daß Beschränkungen dieser Freiheitssphäre der Staaten auf dem Boden der
internationalen Gemeinschaft nur in anderweiten Normen des Völkerrechts
oder in konkreten Akten der Selbstbeschränkung ihre rechtliche Wurzel
haben können.
Völkerrechtliche Ansprüche und Verbindlichkeiten entspringen aus den
Völkerrechtsnormen und aus individuellen Titeln (Verträgen, Ver-
letzungen u.s. w.). Im Hinblick auf die berechtigten und verpflichteten Subjekte
ergibt sich zunächst eine Klasse von Ansprüchen gegen jedermann (absolute
Ansprüche): dem Berechtigten stehen alle übrigen Mitglieder der völkerrecht-
lichen Gemeinschaft als Verpflichtete gegenüber.3) Hieher gehört vor allem
der Anspruch auf Anerkennung als Rechtssubjekt und Nichtverletzung der
Person bezüglich ihrer wesentlichen Attribute. Diese Ansprüche setzen
Normen voraus, deren Imperative sich an alle (die Normen anerkennenden)
Mitglieder der Gemeinschaft wenden und dem Berechtigten gegen jedes Mit-
glied Schutz gewähren.) Eine andere Klasse von Ansprüchen ist dagegen
nicht gegen alle anderen Mitglieder der Gemeinschaft, sondern nur gegen
einen bestimmten oder mehrere bestimmte Staaten gerichtet. Diese relativen
1) Die Wirksamkeit dieser Norm zessiert im Kriege; hier ist daher die Verletzung nicht
rechtswidrig.
2) Jellinek, System S. 306; Heilborn, System 8. 2%7.
3) Vgl. Heilborn, System S. 315ff, insbes. die Ausführungen über die absoluten An-
sprüche der Staaten in bezug auf Land und Leute.
4) Mit Recht bemerkt Heilborn, System 8. 31$, daB ein die absoluten Rechte nicht
anerkennender Staat von keinem anderen Staate als Völkerrechtssubjekt anerkannt werden dürfte.