8 Erstes Buch. Allgemeine Lehren. $ 2.
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das nationale Recht in seiner ursprünglichen Gestaltung jenen Erfordernissen
nicht entsprach, welche heute die Rechtsordnung der Kulturvölker charakteri-
sieren. Idee und praktische Möglichkeit des Rechts sind an die Tatsache
menschlicher Gemeinverhältnisse geknüpft, weil notwendig mit dieser Tat-
sache gegeben 1).
Die hier in Frage stehenden Gemeinverhältnisse finden als Erscheinungen
des internationalen Lebens ihre Gestaltung und Fortbildung in der Geschichte
der Völker. Die Ausbildung von Normen des Völkerverkehrs und sohin des
Völkerrechts überhaupt bildet einen Bestandteil der Geschichte der Völker;
die Erkenntnis jener Normen ist daher wesentlich aus den für den Völker-
verkehr bedeutsamen Tatsachen und Vorgängen zu schöpfen?2). Eine sichere
und erschöpfende Grundlage für den wissenschaftlichen Nachweis des ersten
Auftretens rechtlicher Gesichtspunkte im Völkerverkehr und der diesen Ver-
kehr beherrschenden Normen kann nur eine dem spezifisch juristischen Zweck
dienende Gesamtdarstellung der Völkergeschichte bieten. Auf dieser Grund-
lage gelangen wir zur. Erkenntnis der Rechtsverhältnisse der Völker und der
jeweilig diese Verhältnisse bestimmenden rechtlichen Anschauungen. Daraus
ergibt sich zugleich, daß die Dogmatik des Völkerrechts zufolge der Eigenart
des Gegenstandes der wissenschaftlichen Erkenntnis sich nur auf die Ge-
schichte der hier maßgebenden Verhältnisse stützen kann. Innerhalb der
Dogmatik nimmt die Formuliernng des Begriffs des Völkerrechts die erste
Stelle ein. Diese Formulierung begegnet aber mancherlei Schwierigkeiten,
daher die doktrinellen Versuche zu den verschiedenartigsten Ergebnissen ge-
führt haben. Die Quelle der Schwierigkeiten liegt augenscheinlich in der
verschiedenen Auffassung der Grundlage des Völkerrechts und der prin-
zipiellen Ausgangspunkte der wissenschaftlichen Erkenntnis
der internationalen Verhältnisse. Gegenüber den tatsächlichen Er-
scheinungen des internationalen Lebens der Neuzeit ist jene Auffassung des
Völkerrechts zweifellos unzutreffend, die lediglich das subjektive Moment
der Souveränetät der in Verkehr stehenden Staaten zum Ausgangspunkte
wählt. Das internationale Leben in seinen vielgestaltigen Verhältnissen ist
kein bloßes Aggregat von Erscheinungen, die wegen ihrer Beziehung zur
Existenz souveräner Staaten schon dann eine erschöpfende wissenschaftliche
Erkenntnis gefunden haben, wenn sie aus dem Gesichtspunkt jener Beziehung
gewürdigt worden sind; jene Verhältnisse sind vielmehr das konstante kausale
Ergebnis des internationalen Lebens, das uns auf das Vorhandensein eines
ebenso konstant wirkenden objektiven außer und neben den souveränen
Staaten, zugleich aber auch durch die souveränen Staaten existierenden sozialen
Faktors: die internationale Gemeinschaft hinweist. Behalten wir das
notwendige Zusammentreffen jenes subjektiven, in der Souveränetät der Staaten
gegebenen, und dieses objektiven Moments im Auge, so vertieft sich der Blick
in jene Fülle von Funktionen, durch welche die modernen Staaten sich in
den Dienst von Aufgaben stellen, die ihnen die Existenz der internationalen
1) Vgl. v. Holtzendorff, HH IS. 7.
2) Vgl. v. Bulmerinegq, Das Völkerrecht 183 ff.