10 Erstes Buch. Allgemeine Lehren. 83
$ 3. Benennung des Völkerrechts. Internationales Recht. Inter-
nationales Öffentliches Recht. Internationales Privat- und Strafrecht.
I. Zur Bezeichnung der auf die Rechtsverhältnisse der Staaten in ihrem wechsel-
seitigen Verkehr sich beziehenden Regeln sind verschiedene Ausdrücke in
Gebrauch. Die ersten wissenschaftlichen Untersuchungen über Völkerrecht
im XVI. Jahrhundert stehen unter dem Einfluß herrschender romanistischer
Anschauungen und verwerten den römischen Ausdruck jus gentium, der aller-
dings bisweilen auch zur Bezeichnung eines den Verkehr der Staaten unter-
einander regelnden Völkerrechts benutzt wurde.!) Indessen das jus gentium
der Römer bezieht sich wesentlich auf die Stellung der Peregrinen innerhalb
des römischen Staates. Der Eintritt des römischen Volkes in den Weltver-
kehr seit dem Ende der punischen Kriege steigerte den Verkehr römischer
Bürger mit den Angehörigen von Staaten, mit welchen auf commercium und
recuperatio lautende Verträge nicht abgeschlossen waren?2). Auf die aus
diesem Verkehr entspringenden Rechtsverhältnisse konnte weder das jus civile,
noch das Recht des Ausländers Anwendung finden; es bedurfte eines neutralen
Rechts, das aus naheliegenden Gründen in der Hauptsache dem jus civile
law, as understood among civilized nations, may be defined as consisting of those rules of
conduct which reason deduces, as consonant to justice, from the nature of the society existing
among independent nations; with such definitions and modifications as may be established
by general consent.*“ Bluntschli, Das moderne Völkerrecht S. 57: „Völkerrecht ist die
anerkannte Weltordnung, welche die verschiedenen Staaten zu einer menschlichen Rechtsge-
nossenschaft verbindet, und auch den Angehörigen der verschiedenen Staaten einen gemein-
samen Rechtsschutz gewährt für ihre allgemein menschlichen und internationalen Rechte.“
Oppenheim, System des Völkerrechts (2. Aufl. 1866) definiert das Völkerrecht oder
„Außere Staatsrecht“ als „den Komplex aller Rechtsnormen für die Beziehungen und Kon-
flikte zwischen den Nationen“. Hartmanu, Institutionen des praktischen Völkerrechts 8. 1:
„Das Völkerrecht ist der Inbegriff der Normen, welche die Beziehungen der Staaten und
Völker untereinander regeln.“ Gareis $ 1: „Das Völkerrecht (ist) der Inbegriff derjenigen
Normen, durch welche gemeinsame Interesson der Staaten als Objekte eines gemeinsamen
Rechtsschutzes, als Rechtsgüter der die Staaten umfassenden Intercssengemeinschaft aner-
kannt und geregelt werden.* Rivier $S. 1: „Das Völkerrecht ist der Inbegriff der Rechts-
normen, welche die Rechtsverhältnisse der Staaten in ihrem wechselseitigen Verkehre be-
herrschen.“ Calvo, Manuel p. #59: „On doit entendre par droit des gens ou droit inter-
national la r&union des rögles de conduite observ6cs par des diverses nations dans leur rela-
tions entre elle.“ v. Holtzendorff, HHIS. 1: „Als völkerrechtlich sind diejenigen
Normen zu bezeichnen, in Gemäßheit welcher die Rechtspflichten und Rechtsansprüche Ver-
kehr pflegender, unabhängiger Staaten im Verhältniß zu einander bestimmt und verwirklicht
werden.“ v.Bulmerincgq, Völkerrecht $1: „Das Völkerrecht oder internationale Recht ist der
Inbegriff der für die Beziehungen der Staaten zu oinander sich bildenden Rechtsnormen und
Rechtsinstitute.“*
1) Vgl. Voigt, Das jus naturale, aegquum et bonum und jus gentium der Römer (1856)
185; Krüger, Geschichte der Quellen und Literatur des römischen Rechts S. 41. — Die
Bedeutung des Ausdrucks jus gentium als Völkerrecht wird von Esmarch, Römische
Rechtsgeschichte S. 162 Anm. *) (mit Bezug auf Voigt a. a. O.) als die ursprüngliche
erklärt — Ueber jus gentium vgl. auch Müller-Jochmus, Geschichte des Völkerrechts im
Alterthum S. 136ff.; Dirksen, Vermischte Schriften I 8. 210. Dess. Manuale latinitatie
fontium e. v. „Gens“; Osenbrüggen, De jure belli et pacis Romanorum p. 9 sq. Vgl. auch
v. Bar, Lehrb. des internationalen Privat- und Strafrechts (1892) S. 8.
2) Vgl. Voigt a. a. 0. II$ S. 69ff.; Esmarch a. a. O. 8. 160.