Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band III. Völkerrecht. (3)

84 Positivität des Völkerrechts. 19 
  
  
kennen, daß der oben betonte Unterschied von Staat und internationaler Ge- 
meinschaft eine Entwicklung des Rechts auf letzterem Gebiete ausschließt, 
wie sie heute dem Rechte der zivilisierten Staaten eigen ist. Dem Völker- 
rechte mangeln die Voraussetzungen einer solchen Entwicklung; sie sind eben 
nur in der staatlichen Organisation der obersten Gewalt in deren bedeut- 
samsten Funktionen: der Gesetzgebung, Rechtsprechung und Exekutive 
gegeben. Die internationale Gemeinschaft ist eben nicht selbst ein Staats- 
wesen;!) die rechtlichen Aufgaben, die ihr zufolge ihres Wesens und ihrer 
Zwecke erwachsen, müssen in eigenartiger Weise der Lösung zugeführt 
werden. Stellen sich die dem Staate heute zur Verfügung stehenden Mittel 
der Fortbildung und Verwirklichung seines Rechts als die relativ wirksamsten 
Garantien der praktischen Geltung des Rechts überhaupt dar, so erscheint 
allerdings das Völkerrecht, dem diese Garantien fehlen, als ein unvollkömmener 
Rechtsteil.2) Damit ist aber keineswegs ausgeschlossen, daß die Idee des 
internationalen Rechts auf dem eigenartigen Boden der internationalen Ge- 
meinschaft und mit den dieser zu Gebote stehenden eigenartigen Mitteln einer 
fortschreitenden Entwicklung und Durchbildung im Laufe der Geschichte ent- 
gegengehe. Der Zustand jetziger Unvollkommenheit des Völkerrechts ist nicht 
bloß auf die konstant wirkende Ursache des Unterschieds von Staat und inter- 
nationaler Gemeinschaft zurückzuführen; er ist außerdem bedingt durch die 
verhältnismäßig kurze geschichtliche Entwicklung, auf der der heutige inter- 
nationale Rechtszustand beruht. Dieser kurze Entwicklungsprozeß läßt aber 
(namentlich im Hinblick auf die neueren Erscheinungen des internationalen 
Rechtslebens) zugleich erkennen, daß das Rechtsbewußtsein der Kulturvölker 
auf eine vollkommenere Gestaltung der internationalen Gemeinschaft, ihrer 
rechtlichen Grundlagen und ihrer praktischen Wirksamkeit gerichtet ist. Mit 
Rücksicht auf das Gesagte ist bezüglich der von den Leugnern des Völker- 
rechts geltend gemachten Mängel des Völkerrechts, welche seine Positivität 
ausschließen sollen, folgendes zu bemerken. Was 1. den Mangel eines Ge- 
setzgebers betrifft, so ist nur richtig, daß über den souveränen Staaten 
keine gesetzgebende Gewalt besteht. Dagegen sind die Staaten als Glieder 
der internationalen Gemeinschaft für den Bereich dieser höheren, den Einzel- 
staaten übergeordneten Rechtsgemeinschaft selbst zur Schaffung von Normen 
für die aus jener Gemeinschaft entspringenden Verhältnisse berufen. Diese 
autonome Rechtsgemeinschaft schafft sich selbst durch rechtlich maßgebende 
  
1) Mit Recht bemerkt Merkel, Jurist. Enzyklopädie $ 828 Abs. 2: „Die Erhebung 
dieses Rechtsteils“ (des Völkerrechts) „auf eine Stufe, welche der von dem Privat-, Straf- und 
Prozeßrecht bei den Kulturvölkern eingenommenen annähernd entspräche, würde die Schaffung 
einer gesetzgebenden und einer richterlichen Gewalt, sowie einer Exekutive über den Völkern 
voraussetzen. Damit aber würde ein diese Völker umspannendes neues Staatswesen auf- 
gerichtet und das Völkerrecht in internes staatliches Recht, das Recht dieses neuen 
Gemeinwesens, umgestaltet sein.“ Vgl. auch v. Kaltenborn, Kritik $S. 312; Berg- 
bohm a. 2.0. 8.5. — Zur Kritik der verschiedenen das Völkerrecht ausschließenden 
Theorien eines Universalstaates siehe Lasson, Prinzip und Zukunft des Völkerreclhits 
S. 119 ff. 
2) Vgl. v. Kaltenborn, Kritik S. 314ff.; Merkel, Jusrist. Enzyklopädie $ $S28 Abs. 1. 
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