262 Viertes Buch. Mittel des rechtlichen Verkehrs der Völkerrechtssubjekte. 8 11.
Außer den Vollmachten zur Verhandlung über einen bestimmten Vertrag gibt
es auch stillschweigende Vollmachten, welche staatlichen Organen, die
mit fremden Mächten in Verbindung stehen, kraft ihrer amtlichen Stellung zu-
stehen. Solche Vollmachten befolgen insbesondere die höheren Befehlshaber
der Armeen und der Marine in Kriegszeiten; diese Funktionäre können kraft
ihrer amtlichen Stellung Verträge abschließen, welche rechtliche Wirkung
haben, ohne daß eine Spezialvollmacht von dem Staatsoberhaupt erteilt worden
ist. Abgesehen von diesen (im Kriegsrecht näher zu erörternden) Verträgen,
bei denen die stillschweigende Vollmacht in der Regel genügen wird, kann je
nach den Umständen der andere Teil auf Vorlage einer speziellen Vollmacht
bestehen !)
Die Bevollmächtigten müssen sich bei den Verhandlungen im Zustande
freier Willensbestimmung befinden. Furcht und Irrtum schließen die Möglichkeit
der Schaffung eines rechtlich maßgebenden Vertragsentwurfs aus: in derlei
Fällen kann die Frage, ob eine Ratifikation stattfinden solle, überhaupt gar
nicht aufgeworfen werden; die Verweigerung der Ratifikation ist selbstver-
ständlich. Sind die Ratifikationsurkunden bereits ausgetauscht, so kann der
Vertrag angefochten werden ?).
$ 77. 3. Die freie Willensbestimmung der Kontrahenten. Die für
den Abschluß des Staatsvertrages entscheidende Willenseinigung der Kontra-
henten ist ausgeschlossen, wenn die höchsten Funktionäre des Staates, die als
Träger des Staatswillens die rechtlich maßgebenden Erklärungen abgegeben
haben, unter dem Einfluß von Irrtum oder Zwang gehandelt haben. Es ist
eben auch hier bezüglich des Staatswillens und seiner Bildung zu beachten,
daß es der Wille der als Organe des Staates fungierenden
physischen Personen ist, auf den es ankommt: nur dieser Wille kann
von Irrtum, Betrug oder Zwang beeinflußt werden. Aus dem allgemeinen
Wesen des Vertrages ergibt sich, daß in derlei Fällen eine freie Willenseini-
gung und darum ein Vertrag ausgeschlossen ist. Gegenüber der Tatsache,
daß Staatsverträge unter dem offenbaren Einfluß einer Zwangs- oder Notlage
geschlossen werden, in welcher den verantwortlichen Organen des Staates eine
andere Willensentscheidung unmöglich war, geht die herrschende Meinung 3) -—
insbesondere bezüglich der Rechtsbeständigkeit der Friedensverträge — dahin,
daß die Handlungsfreiheit der Staaten zu präsumieren sei; es genüge, wenn
die beim Abschluß des Vertrages handelnden Vertreter persönlich frei sind ®).
1) Vgl. Berner a. a. O. S. 632; Geßner, HH JII S. 14.
2) Berner a. a. O. S. 639; Gareis $ 72.
3) Vgl. Bluntschli, Völkerrecht $ 408; Heffter-Geffcken $$ S5ff.; Jellinek,
Staatenverträge 9. 60 ff.; F. v. Martens II 403ff.;, Gareis $ 72, IV, 1; Bonfils Nr. 81S;
OppenheimI$ 499. — Neuestens hat sich Nippold a a. 0. S. 165 ff. mit dieser Frage ein-
gehend befaßt. Er verwirft die herrschende Meinung. Indessen, so anerkennenswert sein
Standpunkt ist — gegenüber der Macht der Tatsachen dürfte es wohl kaum gelingen, dic
aus der allgemeinen Rechtsnatur des Vertrages sich ergebenden Konsequenzen in völkerrecht-
liche Rechtssätze umzusetzen und ihnen praktische Geltung zu sichern.
4) Geffcken zu Heffter a. a. 0. unterscheidet den Zwang gegen einen Unter-
händler oder den ratifiziorenden Faktor einerseits und den Zwang gegen einen Kon-