S4, Positivität des Völkerrechts. 21
ausgebildeten Rechtsordnung, welche die Selbsthilfe ausschließt und allen
Zwang zur Durchsetzung des Rechts unparteiischen Organen anvertraut.
Diesem Rechtszustand sind in der Geschichte der Kulturstaaten Zustände
voraufgegangen, in denen das materielle Recht, dessen Positivität für jene
Zeiten nicht bezweifelt wird, einer geordneten Rechtshilfe durch den Staat
ermangelte, und Selbsthilfe und Fehderecht einen geordneten Rechtsgang er-
setzen mußten. !) Aber selbst der heutige Rechtszustand, der sich durch eine
intensive Ausbildung richterlicher Hilfe und eines geordneten Rechtsgangs
auf allen Gebieten ‚des Rechts auszeichnet, weist Erscheinungen auf, welche
die Unabhängigkeit der Positivität des Rechts von der Entscheidung richter-
licher Behörden deutlich erkennen lassen. Alle Gebiete des staatlichen Rechts
kennen leges imperfectae; im Zivilrecht kommt manchen Forderungen, denen
die Klagbarkeit versagt ist, nur indirekte Wirksamkeit zu. Auf dem Gebiete
des Verfassungsrechts der konstitutionellen Monarchie begegnen wir Rechts-
sätzen, deren Positivität nicht bezweifelt wird, obzwar hier Richterspruch
und Rechtszwang ausgeschlossen sind.?2) Ferner darf nicht unbeachtet bleiben,
daß auch heute objektiv feststehendes, richterlichem Schutze zugängliches
Recht praktisch unwirksam bleiben kann, so z. B. im Falle mangelnder Ob-
jekte der Zwangsvollstreckung, im Falle der Flucht des Privatschuldners oder
auf dem Gebiete des Strafrechts im Falle der Flucht des Verbrechers.3) Im
übrigen zeigt das tägliche Rechtsleben, daß das Recht seine praktische Gel-
tung in der Regel ohne Eingreifen des Gerichts bewährt; Rechtspflichten
werden regelmäßig freiwillig erfüllt, mag auch vielfach das Motiv in der
Scheu vor den Folgen gerichtlichen Zwanges liegen.*) Es geht daher nicht
an, in prinzipieller Allgemeinheit ein Verhältnis der Korrelation zwischen der
Positivität des Rechts und geordneter Rechtshilfe zu statuieren. Die im Laufe
der Geschichte sich vollziehende Ausgestaltung eines geordneten Rechtszwangs
vollzieht sich im Hinblick auf regelwidrige Erscheinungen (die Nichterfüllung
von Pflichten aller Art, die Verursachıung von Verletzungen rechtlich ge-
schützter Interessen u. s. w.) und bezielt deren Aufhebung sowie die Wieder-
1) Vgl. Bluntschli, Das moderne Völkerrecht 8.9; v. Holtzendorff, HH IS. 23
241; F.v.Martensl1S. 12ff.
2) Vgl. Thon, Rechtsnorm und subjektives Recht S. 6, 7; Derselbe in Grünhut’s
Ztschr. VIL S. 231 ff., 251 u. Anm. 22; Merkel; Jurist. Enzykl. $ 57: „Einer einzelnen,
durch die Herkunft von dem in der Gemeinschaft herrschenden Willen und dem Zusammen-
hang der Bestimmungen, welchem sie angehört, getragenen Norm ist um deswillen nicht der
Charakter der Rechtsvorschrift abzustreiten, weil ihr etwa die Sanktion (das sekundäre Gebot)
fehlt.“ Vgl. in letzterer Bezichung 88 54, 55 ebenda. Vgl. übrigens auch Merkel’s Aus-
führungen über die Bedeutung der sekundären Gebote in Grünhut’s Ztschr. VI 8. 367 ff.,
insbesondere 375 ff. — Vgl. auch Bierling, Zur Kritik der juristischen Grundbegriffe
IS. 140 ff.
8) Mit Recht verweist v. Holtzendorff, HH I 8. 23 auch darauf, daß in der Un-
sicherheit der Zivilrechtspflege, wofern deren Organe der Bestechung zugänglich sind und die
Justiz an die meistbietende Partei verkäuflich erscheint, kein Grund läge, deswegen das Vor-
handensein materieller Zivilrechtenormen zu bestreiten.
4) Gegen die Verwertung dieser Tatsachen gegenüber der Meinung der Gegner Thon
in Grünhut’s Ztschr. VII S. 245. Siehe übrigens auch die Ausführungen S. 249,