22 Erstes Buch. Allgemeine Lehren. S 4.
herstellung des regelmäßigen Zustands; die Möglichkeit und Notwendigkeit
des Rechtszwangs setzt also singuläre Tatbestände voraus, bezüglich welcher
der Rechtszwang praktische Bedeutung gewinnt. Daher tritt die Rechts-
hilfe zu den Rechtsnormen nur eventuell, nicht regelmäßig in praktische
Beziehung.
Die Eigenart des Völkerrechts schließt allerdings eine Organisation des
Rechtsschutzes nach Art der staatlichen Schutzmittel auf dem Gebiete des
Privatrechts und in den verschiedenen Zweigen des öffentlichen Rechts aus;
allein eine friedliche Realisierung des Rechts ist gleichwohl im Völkerrecht
nicht ausgeschlossen. Völkerrechtliche Streitigkeiten werden durch die Streit-
teile selbst im Wege des Vergleichs erledigt; vielfach unterwerfen sich die
Streitteille einem Schiedsspruch; die Vermittlung dritter Mächte hat
viele Streitfälle beseitigt; internationale Kongresse und Konferenzen
wurden mit der Prüfung von Ansprüchen und der Entscheidung über streitige
internationale Rechtsverhältnisse befaßt. Die Prisengerichte bieten als
nationale Gerichte allerdings nicht jene Garantien unparteiischer und kor-
rekter Rechtsprechung, welche die Justizpflege des Rechtsstaats charakterisieren;
allein die Existenz solcher Gerichte bringt wenigstens den Willen der Mächte
zum Ausdruck, die Ausübung betreffender Rechte von der autoritativen An-
erkennung eines Gerichts abhängig zu machen. Gerade auf diesem Gebiete
wurde übrigens von der Haager Konferenz des Jahres 1907 ein bedeutsamer
Fortschritt durch Errichtung des internationalen Oberprisengerichts
geschaffen. Mächtige Förderung fand die Schiedsgerichtsidee durch das
Haager Friedensabkommen vom 21. Juli 1899, dessen Ergänzung durch das
Haager Abkommen vom 18. Oktober 1907 und durch die gleichzeitig in
der Schlußakte der Haager Konferenz 1907 ausgesprochene Anerkennung
des Prinzips der obligatorischen Schiedssprechung. !) 3. Ein
dritter Einwand, der gegen die Positivität des Völkerrechts erhoben wird,
hängt mit der in der Rechtswissenschaft immer von neuem hervortreten-
den Frage zusammen, ob der Zwang, der den Übertreter einer Rechts-
vorschrift treffen soll, einen wesentlichen Bestandteil im Begriffe des Rechts
bilde.2) Man leugnet den Rechtscharakter der Normen des Völkerlebens
wegen des Mangels eines völkerrechtlichen Zwanges. Die theoretisch maß-
1) Dem Wesen des Völkerrechts widersprechen natürlich nach dem oben Gesagten alle
jene Projekte, welche die Schaffung einer gesetzgebenden und richterlichen Gewalt, sowie
einer Exckutive über den Völkern voraussetzen. Vgl. Merkel, Jurist. Enzykl. $ 828 Abs. 2
mit $ 140, insbes. Anm. u. $ 56. — Von neueren Projekten siche schon bier Lorimer, Le
problöme final du droit international in Revue de dr. intern. IX p. 200 sq.; Hanson, The
prevention of war, p. 19; Bluntschli, Kleine Schriften (1881) II S. 299 ff.
2) Die Frage ist neuerlich durch Ihering’s Ausführungen (Zweck im Recht I) zum
Gegenstand der Diskussion geworden. Nach ihm ist das Recht das System der durch
„Zwang gesicherten sozialen Zweckc“ (S. 240), „die Politik der Gewalt“. Der Charakter einer
Rechtsnorm bestimmt sich lediglich darnach, daß der Richter nach ihr auch zu sprechen und
sie gegen den Widerstrebenden mittels Zwangs zur Anwendung zu bringen hat (S. 321)
u. 8. w. -—- Siehe dagegen Dahn, Die Vernunft im Recht. Grundlagen der Rechtsphilosophie
S. 33 ff.; Thon in Grünhut’s Ztschr. VII S. 244 ff.; vgl. auch Dessen Rechtsnorm und
subj. Recht S. 5ff.; Regelsberger, Pandckten S. 61 ff., insbes. S. 63 Nr. 11.