$ 9. Nebenländer. Kolonien. 299
scheiden, die gleichfalls der Gebietshoheit unterworfen, geographisch von dem
Hauptgebiete getrennt sind und ein Nebenland bilden. In diesem Sinne können
auch die Enklaven als Nebenland aufgefaßt werden. Staatsrechtlich und völker-
rechtlich wird aber der Begriff des Nebenlandes heute vornehmlich auf jene
Gebiete bezogen, auf welche die europäischen Staaten im Wege der Betätigung
kolonialer Politik ihre Gebietshoheit ausgedehnt haben: die Kolonien,')
d. h. überseeische Gebiete europäischer Staaten. Die Kolonie in diesem
engeren und eigentlichen Sinne kann in dem engen staatsrechtlichen Verhältnisse
einer Provinz zum Mutterlande stehen, durch Personal- oder Realunion mit
letzterem verbunden sein. Das Verhältnis kann aber auch ein völkerrechtliches
Protektorat sein; in diesem letzteren Sinne sind z. B. Tonking und Tunis
französische Kolonien, die Vasallenstaaten in Indien englische Kolonien.
Die Natur des völkerrechtlichen Protektorats schließt die Gebietshoheit des
schützenden Staates aus, daher hier nur von Kolonien im weiteren Sinne die
Rede sein kann.
II. Bezüglich der Erwerbung der Kolonien besteht ein tiefgreifender
Unterschied zwischen dem Vorgeben der europäischen Staaten im Zeitalter
der Entdeckungen?) und in der Gegenwart. In jener Zeit erfolgte auf Grund
päpstlicher Bullen im Sinne der herrschenden feudal-kirchlichen Anschauungen
die Erwerbung neuentdeckter Ländereien°®); durch die Bulle Alexander’s VI.
vom 4. Mai 1493 wurde den vereinigten Königreichen Kastilien und Arra-
gonien die Herrschaft über alle von Kolumbus entdeckten J,ändern und Inseln
sowie alle neu entdeckten und in Zukunft zu entdeckenden Länder westlich
von einem durch die Kap Verdischen Inseln laufenden Meridian, die östlich
von dieser Linie gelegenen Länder den Portugiesen übertragen. Dem eigenen
Rechte der Eingeborenen an ihrem Heimatland wurde das aus jenen Über-
tragungen abgeleitete Recht der europäischen Staaten auf Besitzergreifung
gegenübergestellt, die Besitzergreifung selbst aber in einer bloß fiktiven
Form vollzogen. Dagegen charakterisieren sich die kolonisatorischen Unter-
nelımungen der Neuzeit durch die wenigstens prinzipielle Anerkennung des
Rechts der barbarischen Stämme auf Unabhängigkeit und ihrer Personalhoheit
über die Angehörigen des Stammes. Da diesen Stämmen staatliche Organisation
und Gebietshoheit fehlt, ist die obige Form der Begründung von Herrschafts-
rechtliche Protektorat (1891); Hänel, Staatsrecht 836 ff. — Vgl. auch Lochnis, Die euro-
päischen Kolonien (1881); v. Koschitzky, Deutsche Kolonialgeschichte, 2 Teile (1888);
Koloniales Jahrbuch, herausgegeben von G. Meinecke (1888 ff... — Gareis, Sammlung von
Gesetzen und Veordnungen, betr. die deutschen Schutzgebiete, deutsches Kolonialrecht (2. A.
1902); Riebow, Die deutsche Kolonialgesetzgebung (auf Grund amtlicher Quellen) 1893;
Zorn, Deutsche Kolonialgesetzgebung (1901). — Vgl. auch Despagnet, Les occupations
des territoires in RG I p. 103 sq.
1) Der Ausdruck Kolonio wird übrigens in verschiedenem Sinne gebraucht. Siche
v. Stengel a. a. O. (3. Bearb.) die Einleitung, insbesondere 8. 10ff. In England werden
übrigens als Kolonien auch Gebietsteile bezeichnet, die in Europa belegen sind: Man, Guern-
sey, Gibraltar, Cypern u. 8. w.
2) Vgl. Nys in der R. XXI 532sq. Despagnet in der RG I 104, 105.
3) So schenkt Clemens VI. den Spaniern die kanarischen Inseln (1344) Nikolaus V.
Guinea den Portugiesen (1454).