Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band III. Völkerrecht. (3)

8 97, Derivativer Erwerb der Gebietshoheit. 315 
  
Die Frage, in welchem territorialen Umfange die Gebietshoheit existent ge- 
worden ist, muß augenscheinlich derzeit im Zusammenhang mit dem wesent- 
lichen Erfordernisse der gültigen Erwerbung der Gebietshoheit, nämlich der 
Effektivität der Besitzergreifung, beantwortet werden. Es sind also nur jene 
Gebietsteile der Gebietshoheit. unterworfen, über welche tatsächlich die 
Herrschaft des Erwerbers ausgeübt wird. Die ältere Staatenpraxis, welche 
das Erfordernis der Effektivität der Besitzergreifung nicht kennt, gelangte zu 
verschiedenen Theorien, welche die maßlosen Ansprüche auf Gebiete, die in 
ihrem Umfang durchaus unbestimmt waren, rechtfertigen sollten und in ein- 
zelnen Fällen auch noch in der neuesten Zeit von einzelnen Mächten und 
Vertretern der Doktrin festgehalten werden. So ist man vor allem davon 
ausgegangen, daß die Okkupation des Mündungsgebietes eines Stromes die 
Herrschaft über das ganze an dem Stromlauf belegene Gebiet begründe !). 
Ein anderer Standpunkt ist der der Kontiguität (Right of contiguity), wo- 
nach alles an das effektiv besetzte Gebiet anstoßende Gebiet der Gebietshoheit 
des Okkupanten unterworfen sein soll; mindestens soll dem Okkupanten ein 
Vorkaufsrecht vorbehalten bleiben. Ebenso vag wie diese beiden Theorien 
ist diejenige, welche eine Mittellinie zwischen den Gebieten zweier benach- 
barter Okkupanten als entscheidend erklärt. — Über den in neuerer Zeit in 
Übung gekommenen Ausweg der Abgrenzung der Interessensphären zweier 
Kolonialstaaten ist schon oben S. 303 gesprochen worden. 
$ 97. Derivativer Erwerb der Gebietshoheit?). I. Diese Art des 
Erwerbs der Staatsgebietshoheit umfaßt alle Fälle des Übergangs der 
Gebietshoheit eines Staates auf einen anderen auf Grund einer 
Willenseinigung des bisherigen Trägers der Gebietshoheit und 
des Erwerbers. Der derivative Gebietserwerb beruht daher immer auf 
einem Vertrage. Übertragungen der Gebietshoheit kommen im friedlichen 
Rechtsverkehr der Völker vor oder sie sind das Ergebnis kriegerischer Vor- 
gänge.. Nach heutigem Verfassungsrecht ist das Staatsgebiet unteilbar 
und unveräußerlich; es ist der Disposition durch privatrechtliche Akte des 
Souveräns entzogen. Abtretungen von Gebietsteilen können nur auf ver- 
fassungsmäßigem Wege, und in den konstitutionellen Staaten nur unter Mit- 
wirkung der zur Bildung des Gemeinwillens berufenen Faktoren erfolgen. 
Die materiellen Motive solcher exzeptioneller Dispositionen über das Staats- 
gebiet können nur in Gründen der Notwendigkeit und ernsten politischen 
Interessen ihre Wurzel haben; die Zession eines Gebietsteils kann unter Um- 
ständen das einzige Mittel sein, die Existenz des Staates zu sichern. Die 
  
1) Standpunkt der Nordamerikanischen Union im Oregonstreit mit England, der im 
Jahre 1346 durch einen Vertrag geschlichtet wurde, ferner in dem Grenzstreit mit Spanien 
bezüglich Louisiana’s. Neuestens hat Portugal denselben Standpunkt mit Bezug auf die Kongo- 
mündung für sich geltend gemacht. 
2) Heffter-Geffcken $$ 69, 182; v. Holtzendorff, HH U 269 ff.; F. v. Martens 
1355ff , Hartmann 175 ff.; Gareis $ 170; v. Liszt, $ 10; Heimburger, Erwerb der 
Gebietshoheit, 110 ff.; Pradier-Fod6&r&, Traite II p. 819sq.; Despagnet, Cours p. 405 sq.; 
Pi@delidvre, Pr&cis I p. 371 sq.; Rivier, Principes I, 197 sq.; Fiore II, $$ 860 aq.; Phil- 
limore 1, $3 252 sq.; Halleck I, 154 sq.; Oppenheim I $$ 213 sq.
	        
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