Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band III. Völkerrecht. (3)

26 Erstes Buch. Allgemeine Lehren. 83». 
  
auch zu einem festen System von subjektiven Rechten bestimmte Formen des 
Unrechts (Zivilunrecht, Kriminalunrecht u. s. w.) darstellt, fehlt es vielfach 
im Völkerrecht an der Bestimmtheit der Tatbestände, die als Rechtswidrigkeit 
empfunden werden und an der Möglichkeit, derlei Tatbestände an eine juri- 
stisch gewisse und überzeugende Beziehung zu Rechtssätzen beziehungsweise 
subjektiven Rechten zu setzen. 
Wie in der Entwicklung der nationalen Rechtsordnung die vorherrschende 
Anwendung von Selbsthilfe auf einen unvollkommenen Rechtszustand hinweist, 
so hängt die spezifische Form der Zwangsreaktion im Völkerleben mit der 
Unvollkommenheit dieses Rechtsteils zusammen. Darauf sind auch gewisse, 
auf den völkerrechtlichen Zwang bezügliche Erscheinungen zurückzuführen, 
die einen Gegensatz zu anerkannten Forderungen der Gerechtigkeit aufweisen 
und den Mangel einer sicher funktionierenden Rechtsordnung im Völkerverkehr 
empfinden lassen Vielfach bleibt nämlich die Zwangsreaktion trotz objektiv 
gegebener Verletzung anerkannter Interessen überhaupt aus, vielfach ist sie 
unwirksam. Der Appell des in seinen Rechten verletzten Staats an den 
Schutz der Mächte kann aus mannigfachen Gründen ohne Erfolg bleiben '); 
das Unrecht bleibt ungesühnt, die verursachte Verletzung wird in ihren 
schädigenden Wirkungen nicht aufgehoben — Erscheinungen, die übrigens 
auch dem Privatrecht, Staatsrecht u. s. w. nicht fremd sind. Sind die fried- 
lichen Mittel der Austragung einer völkerrechtlichen Streitigkeit erschöpft 
und wird der Krieg als äußerstes Mittel zur Anwendung gebracht, so hängt 
der Sieg des Rechts vom Siege im Krieg ab; dieser ist aber im einzelnen Falle 
nicht immer auf Seiten des Rechts. 
$ 5. Positives Völkerrecht und natürliches oder philosophisches 
Völkerrecht. Das Recht regelt menschliche Lebensverhältnisse. Die objektive 
Bestimmtheit dieser Verhältnisse postuliert die gleiche objektive Bestimmtheit 
der Rechtssätze — mit anderen Worten: die Möglichkeit mehrfacher Normen 
für betreffende Lebensverhältnisse, die auf verschiedenen, einander fremden 
oder gar gegensätzlichen Autoritäten beruhen und einen verschiedenen Inhalt 
haben, ist ausgeschlossen. Es ergibt sich dies aus dem notwendigen Zu- 
sammenhang des Inhalts eines Rechtssatzes mit der Beschaffenheit des be- 
treffenden Lebensverhältnisses; jeder Rechtssatz beansprucht ausschließ- 
liche Geltung, denn er erscheint als der jeweilige Ausdruck der in den 
Lebensverhältnissen selbst niedergelegten und von den Recht schaffenden Au- 
toritäten erkannten Ordnung. Objektive Bestimmtheit, Schaffung durch eine 
anerkannte rechtbildende Autorität und ausschließliche praktische Geltung 
sind Kriterien des positiven Rechts; vom Standpunkt des realen Rechtslebens 
1) Vgl. v. Kaltenborn, Kritik S. 314, der darauf hinweist, daß es bisweilen unmög- 
ist, die Überzeugung von dem Rechte zu gewinnen (weil es dem verletzten Staate nicht ge- 
lingt, sein Recht darzutun); auch kann sich die Gesamtheit irren oder zwiespältig sein. — 
Hinzuzufügen wäre, daß oft trotz besserer Überzeugung der Staaten von einem Rechtsbruch, 
dessen sich ein einzelner Staat schuldig gemacht hat, egoistisches Hervorkehren politischer 
Interessen, auch wohl vielfach das augenscheinliche Mißverhältniß zwischen dem Maße und 
der sonstigen Bedeutung des Rechtsbruchs und der kriegerischen Entfaltung der staatlichen 
Machtmittel von letzterer abhalten wird. 
 
	        
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