Full text: Das öffentliche Recht der Gegenwart. Band III. Völkerrecht. (3)

85. Positives Völkerrecht und natürliches oder philosophisches Völkerrecht. 27 
kann nur das positive Recht als Komplex von ordnenden Rechtssätzen in Be- 
tracht kommen, Nun tritt aber in der Geschichte des Rechtslebens ein Unter- 
schied bezw. Gegensatz innerhalb des Rechts in der Art hervor, daß dem 
positiven Recht ein auf anderweite Autoritäten (die Gottheit, die Vernunft) 
zurückgeführtes, oder in der Natur des Menschen oder der menschlichen Ge- 
meinverhältnisse niedergelegtes göttliches oder natürliches Recht gegenüber- 
gestellt wird. Ein solcher Gegensatz kann sich nur in der Sphäre subjektiver 
Erkenntnis des Rechts ausbilden, also erst in jenen Epochen der Kultur- 
entwicklung hervortreten, in denen das Bedürfnis wissenschaftlicher Erkenntnis 
des Rechts sich geltend macht und das menschliche Denken die Dinge in ihrem 
Zusammenhange zu erkennen und auf ein einheitliches Prinzip zurückzuführen 
sucht. Allerdings lag zu allen Zeiten eine alle Erscheinungen umfassende 
Erkenntnis im Zwecke der Philosophie; daher erscheinen schon in den An- 
fängen der Philosophie das Recht und der Staat, diese beiden bedeutsamsten 
Erscheinungen des menschlichen Gemeinlebens, als eines der wichtigsten Pro- 
bleme philosophischer Spekulation. Allein es wäre durchaus unzutreffend, 
wollte man die Rechts- und Staatsphilosophie lediglich zu dem erkenntnis- 
theoretischen Interesse in Beziehung bringen. Die Geschichte dieses Er- 
kenntnisgebietes weist vielmehr Phasen auf, in denen die Philosophie sich 
wesentlich praktische Aufgaben setzt.) Die jeweiligen Ergebnisse philo- 
sophischer Spekulation werden herrschenden Rechts- und Staatszuständen als 
das ideale Gegenbild gegenübergestellt und ihnen praktische Bedeutung 
vindizirt, indem das ideale Recht wegen seiner materiellen Richtigkeit An- 
spruch auf Verwirklichung erhebt oder geradezu gegenüber dem lückenhaften 
und praktisch unbrauchbaren positiven Recht als geltendes Recht erklärt wird. 
Der naturrechtlichen Anschauung gilt das positive Recht nicht als Grundlage 
der Erkenntnis; Ausgangspunkt der Erforschung des Wesens des Rechts sind 
vielmehr außer dem Recht liegende Ideen, aus denen durch vernünftiges Denken 
das Recht erkannt werden will.2) Dem positiven Recht gegenüber erscheint also 
das Naturrecht als das durch die deduktive Methode charakterisierte Ergebnis 
philosophischer Erforschung des Rechts. Dieser eigenartigen Betrachtungs- 
weise des Rechts steht jene gegenüber, die von dem geltenden Recht als Er- 
gebnis geschichtlicher Entwicklung und den realen Erscheinungen des Rechts- 
lebens ausgehend das Wesen des Rechts und der einzelnen Institute in be- 
  
1) So wird z. B. im Mittelalter auf kirchlicher Seite (Augustinus, De civitate Dei) 
die Ansicht vertreten, daß es ein auf göttlicbem Willen beruhendes, über den menschlichen 
Satzungen stehendes Recht gebe, auf dem ein theokratisches System aufgebaut wird, welches 
in der Idee eines päpstlichen Universalreichs gipfelt. 
2) Vgl. Merkel, Grünhut’s Ztschr. I S. 1ff.; Gierke, Naturrecht und deutsches 
Recht (1853); Stammiler, Über die Methoden der geschichtlichen Rechtstheorie (1888); 
Frank, Naturrecht, geschichtliches Recht und soziales Recht (1891); Bergbohm, Jurispru- 
denz und Rechtsphilosophie; neucstens Bierling, Juristische Prinzipienlchre (1894) I und 
Desson „Kritik der juristischen Grundbegriffe“ (1877) I. — Vgl. auch Franz Brentano, 
Über die Gründe der Entmutigung auf philosophischem Gebiete (1874), bezüglich der Metho- 
den philosophischer Forschung insbes. S. 19, 20; Desselben „Vom Uıisprung sittlicher Er- 
kenntniß“ (1889), insbes. S. 30, 33; v. Martitz, Archiv f. öffentl. Recht I S. 29.
	        
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